Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Gregoria. Ich bin nur ein bisschen lädiert – aber daran habe ich mich längst gewöhnt.« Natürlich wusste die alte Nonne, dass es viel schlimmer gewesen war.
Dann erklärte Gabriella, sie würde die Adressen ihrer Eltern brauchen. Die Oberin zögerte sehr lange, denn Mrs Harrison hatte ausdrücklich verlangt, darüber dürfe ihre Tochter nicht informiert werden. Aber nun hatte sie seit fünf Jahren nichts mehr von der Frau gehört, und Mutter Gregoria glaubte, einen Schaden anzurichten, wenn sie den Wunsch des Mädchens nicht erfüllte, den sie nur zu gut verstand. Also nannte sie die Adresse der Mutter in San Francisco und die des Vaters in den East Seventies.
»In New York?«, fragte Gabriella verwirrt. »Davon wusste ich nichts.«
»Er blieb nur ein paar Monate in Boston, Gabbie. In all den Jahren hat er hier gelebt.«
»Und warum kam er nie zu mir?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten«, erwiderte die Oberin leise, obwohl sie gewisse Vermutungen hegte.
»Hat er Sie niemals angerufen?«
»Kein einziges Mal. Aber deine Mutter gab mir seine Adresse, nur für den Fall, dass ihr etwas zustoßen würde und ich mich aus irgendwelchen Gründen an ihn wenden müsste. Dazu kam es nicht.«
»Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, wo ich war ...«, meinte Gabbie verwirrt. Die ganze Zeit hatte er nur wenige Häuserblocks von ihr entfernt gewohnt. Unfassbar ...
»Nun kannst du ihn anrufen.« Die Nonne verriet ihr die Adresse und die Telefonnummern seines Apartments und seines Büros. Dann gab sie ihr auch Mrs Waterfords Nummer in San Francisco.
»Danke, Mutter Gregoria.« Vorsichtig fügte sie hinzu: »Ich vermisse Sie.«
»Mein Kind, wir haben oft für dich gebetet. Und ich war so stolz auf dich, als ich deine Geschichte im
New Yorker
las, den du mir geschickt hast.« Gabbie erzählte von dem gütigen Professor, der ihr sein Vermögen hinterlassen hatte. Die Augen geschlossen, lauschte die Oberin der geliebten Stimme und atmete erleichtert auf. Wenigstens war das Mädchen in der Welt da draußen nicht allein und hilflos gewesen.
»Erlauben Sie mir, Ihnen zu schreiben?«, fragte Gabriella schüchtern. »Ich würde Ihnen gern berichten, was aus meinen Eltern geworden ist.«
»Nein, das ist unmöglich«, antwortete die alte Schwester. Nicht einmal Gabriellas Name durfte im Kloster ausgesprochen werden. »Gott segne dich, mein Kind.«
»O Mutter Gregoria, ich werde Sie immer lieben ...«, schluchzte Gabbie.
»Pass gut auf dich auf«, wisperte die Oberin. Mehr vermochte sie nicht zu sagen. Tränen erstickten ihre Stimme. In diesem letzten Jahr war sie stark gealtert. Der schmerzliche Verlust hatte seinen Tribut gefordert.
Sekundenlang überlegte Gabriella, ob sie Peter Mason erwähnen sollte. Dann besann sie sich eines Besseren. Es gab ohnehin nicht viel zu erzählen. Vielleicht würde er sie vergessen, nachdem sie aus der Klinik entlassen worden war. Oder er hatte sich nur zum Zeitvertreib mit ihr unterhalten, und im Grunde interessierte sie ihn gar nicht. Inzwischen müsste sie gelernt haben, keinem Mann zu trauen.
»Gott segne dich, mein Kind«, wiederholte Mutter Gregoria, und beide legten weinend auf. Gabriella fürchtete, sie hätte die Stimme der geliebten Nonne zum letzten Mal gehört. Diesen Gedanken konnte sie kaum ertragen.
Sie wartete ein paar Minuten, bis sie zu Atem gekommen war. Dann wählte sie die Büronummer, die Mutter Gregoria sich vor dreizehn oder vierzehn Jahren notiert hatte. Vielleicht arbeitete John Harrison nicht mehr in dieser Firma. Aber es dauerte nicht lange, bis seine Tochter mit ihm verbunden wurde.
»Gabriella?«, rief er verblüfft. Seine Stimme klang wie eh und je, und vor ihren Augen erschien eine Vision aus der Kindheit – ihr Prince Charming.
»Daddy?« Plötzlich fühlte sie sich wieder wie eine Neunjährige. Oder noch jünger.
»Wo bist du?« Seine Stimme klang besorgt.
»In New York. Gerade habe ich deine Nummer ausfindig gemacht. Nach so langer Zeit ... Ich dachte, du wärst in Boston.«
»Vor dreizehn Jahren zog ich wieder hierher«, erklärte er leichthin.
Was mochte er empfinden? Das konnte sie sich nicht einmal annähernd vorstellen. Eigentlich müsste ihm genauso zu Mute sein wie ihr. »Mommy brachte mich in ein Kloster«, platzte sie heraus und kam sich immer noch wie ein Kind vor.
»Ja, ich weiß«, erwiderte er in ruhigem Ton. »Sie hat mir aus San Francisco geschrieben.«
»Wann?«, fragte Gabriella verwirrt. Also war er über ihren
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