Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Steve mich zusammenschlug, weiß ich. Das war völlig klar. Weil er sich mein Erbe aneignen wollte – und weil ich mich weigerte, ihm auch nur einen Cent zu geben. Aber warum meine Mutter mich hasste, habe ich bis heute nicht herausgefunden. Wahrscheinlich werde ich's nie begreifen. Dauernd behauptete sie, ich sei ein unartiges Mädchen. Sonst müsste sie mich nicht verprügeln. Aber wie schlimm kann ein Kind denn sein?« Dieses Problem beschäftigte sie seit ihrer Begegnung mit der kleinen Allison in Baum's Restaurant immer wieder.
»Nicht so schlimm, dass man ihm alle Rippen brechen muss. Haben Sie Ihre Mutter nie gefragt, warum Sie geschlagen wurden?«
»Damals war ich zu feige. Später war sie für mich unerreichbar. Mein Vater ebenso. Vor etwa einem Jahr versuchte ich, ihn anzurufen. Aber sein Name steht nicht im Telefonbuch von Boston.«
»Und mit Ihrer Mutter wollten Sie keine Verbindung aufnehmen? Aber es dürfte wohl besser sein, wenn Sie sich von ihr fern halten.«
»Allerdings.« Die bösen Erinnerungen jagten ihr immer noch einen Schauer über den Rücken. Nach Steves Mordanschlag waren viele alte, grässliche Gefühle zu neuem Leben erwacht. »Vielleicht hat sie sich inzwischen geändert und könnte mir erklären, was damals geschah. Womöglich tut es ihr sogar Leid. Beinahe hätte es mein Leben zerstört. Auch an ihr wird's nicht spurlos vorübergegangen sein.« Ihr flehender Blick krampfte Peters Herz zusammen. »Was steckt in mir, das meine Mutter mit so bitterem Hass erfüllt hat?« Irgendwie musste sie die Wahrheit ergründen.
»Vermutlich lag's an ihrer kranken Seele«, meinte er nachdenklich. »Mit Ihnen persönlich hat das nichts zu tun, Gabbie.« In der Notaufnahme hatte er schon oft misshandelte Kinder gesehen – angstvolle Augen, zerschundene kleine Körper – die hilflosen Opfer bösartiger, kranker Menschen. Erst vor zwei Monaten war ein kleines Mädchen auf der Intensivstation gestorben, von der Mutter hirntot geprügelt. Am liebsten hätte er die Frau eigenhändig erwürgt. Jetzt saß sie in Untersuchungshaft, und ihre Anwälte strebten eine Strafe auf Bewährung an. »Wie haben Sie das bloßüberlebt, Gabbie? Hat Ihnen wirklich niemand geholfen?«
»Nein – niemand. Erst im Kloster fühlte ich mich geborgen.«
»Waren die Nonnen gut zu Ihnen?« Inständig hoffte er, es hätte wenigstens einen Lichtblick in ihrem Leben gegeben. Obwohl er sie kaum kannte, drängte es ihn mit aller Macht, sie zu beschützen. Im Augenblick konnte er ihr nur zuhören.
»Sehr gut. Dort war ich glücklich.«
»Und warum sind Sie fortgegangen?« So vieles gab es, was er noch nicht wusste. Und er wollte alles erfahren.
»Weil ich etwas Schreckliches tat. Danach durften sie mich nicht behalten.« Das hatte sie in diesem letzten Jahr akzeptiert. Aber sich selbst verzieh sie noch immer nicht.
»So schlimm kann's doch gar nicht gewesen sein«, meinte er leichthin. »Haben Sie einer Nonne die schwarze Tracht geklaut?«
»Meinetwegen starb ein junger Mann – Joe Connors. Damit muss ich leben.«
Ein paar Sekunden lang wusste er nichts zu sagen. »Ein Unfall?« Zweifellos. Gabbie konnte niemanden getötet haben. Das erkannte er instinktiv.
Prüfend schaute sie ihn an und überlegte, ob sie ihm trauen durfte. Und was sie in seinen Augen las, beseitigte die letzten Zweifel. »Weil wir uns liebten, nahm er sich das Leben. Er war ein Priester. Und ich erwartete sein Baby.«
In wachsendem Staunen erwiderte er ihren Blick. Offenbar war sie durch die Hölle gegangen – und wieder zurück. »Wie lange ist das her?«, fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob das eine Rolle spielte.
»Ein Jahr. Genau genommen – elf Monate. Wie es dazu kam, weiß ich nicht. Zuvor hatte ich mich nie für Männer interessiert. Wahrscheinlich verstanden wir beide nicht, was wir taten – bis es zu spät war. Unsere Beziehung dauerte drei Monate, und wir beschlossen, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Aber dazu war er unfähig. Er konnte die Kirche nicht verlassen, und er musste mit den Dämonen seiner eigenen Vergangenheit kämpfen. Deshalb wollte er das Priesteramt nicht aufgeben. Gleichzeitig wollte er ohne mich nicht mehr leben. Also brachte er sich um und hinterließ mir einen Brief, um seine Beweggründe zu erklären.«
»Und das Baby?«, fragte Peter leise und umfasste ihre Hand noch fester. Nur mühsam widerstand er dem Impuls, sie zu umarmen.
»Im letzten September erlitt ich eine Fehlgeburt«, flüsterte sie.
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