Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Auch das fiel der Oberin auf.
»Gehe ich hier zur Schule?«, fragte Gabriella mit tränenerstickter Stimme. Sie litt an einem heftigen Schluckauf, und das Atmen fiel ihr schwer.
»Ja, du wirst unterrichtet«, antwortete Mutter Gregoria in ruhigem Ton, der Gabriella aber nicht beschwichtigte. In diesem Gebäude war alles so fremd, und sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, trotz der Prügel, die ihr dort Tag für Tag drohten. Aber was sie sich wünschte, spielte keine Rolle. Mommy würde nach Reno reisen, wo immer das sein mochte. »Hier wohnen noch zwei andere Kinder«, fuhr die Nonne fort. »Sie sind Schwestern und älter als du, vierzehn und siebzehn Jahre alt. Sicher wirst du dich mit ihnen anfreunden. Sie fühlen sich sehr wohl bei uns.«
Dass die beiden Mädchen im Kloster lebten, weil sie verwaist waren, erwähnte sie nicht. Im Vorjahr hatten die Eltern einen tödlichen Autounfall erlitten, und die Großmutter war völlig unerwartet zu Weihnachten gestorben. Da sie die Kusinen einer Nonne waren, hatten sie Zuflucht im Kloster gefunden, wo sie bleiben sollten, bis sich eine andere Lösung ergab.
Gabriella würde nur vorübergehend die Gastfreundschaft des Ordens genießen. Zwei Monate, hatte Mrs Harrison angekündigt, höchstens drei. Aber das teilte die Oberin dem Kind nicht mit. Zwischen Mutter und Tochter schien eine eigenartige Spannung zu herrschen. Das Interesse der weisen alten Frau wuchs.
War es möglich, dass sich Gabriella vor ihrer Mutter fürchtete? Wie Mutter Gregoria wusste, hatte der Vater des Kindes seine Familie verlassen und wollte demnächst wieder heiraten. Von ihren eigenen Absichten hatte Mrs Harrison nichts erzählt und nur erklärt, sie brauche eine Unterkunft für das Kind, während sie sich in Reno aufhalten würde, um ihre Scheidung abzuwickeln. Dieser Plan missfiel der Oberin ebenso wie das Verhalten dieser Frau. Aber es stand ihr nicht zu, deren Moral zu beurteilen. Sie fühlte sich nur für das tränenüberströmte, unglückliche Mädchen verantwortlich.
»Jetzt muss ich gehen«, murmelte Eloise und schaute auf ihre Uhr. Plötzlich zerrte eine kleine Hand an ihrem Rock.
»Nein, bitte, geh nicht, Mommy!«, flehte Gabriella. »Ich werde ganz brav sein ... Das verspreche ich ... Bitte, nimm mich mit ...«
»Sei nicht albern!« Sichtlich angewidert, riss Eloise sich los. Beinahe wäre sie schreiend zur Tür gerannt.
Nun schaltete sich Mutter Gregoria ein. »In einer Stadt wie Reno sind Kinder fehl am Platz. Und Erwachsene sind dort auch nicht gut aufgehoben«, ergänzte sie missbilligend. Natürlich wusste sie nicht, dass Frank Waterford für Eloise und sich selbst eine Suite auf einer exklusiven Touristenranch gebucht hatte. Dort wollte er ihr beibringen, im Texas-Stil zu reiten. »Bald kommt deine Mutter zurück, Gabriella«, versicherte die Nonne. »Keine Bange, die Zeit wird dir sehr schnell vergehen.«
Mit diesen aufmunternden Worten erzielte sie keinen Erfolg. Sie spürte, dass das Kind einer Panik nahe war, was die Mutter aber nicht zu beunruhigen schien. Vielleicht nahm sie es gar nicht wahr. Die Oberin bedeutete ihr fast unmerklich zu gehen.
Sofort schüttelte Eloise ihr die Hand, dann wandte sie sich zu ihrer Tochter und lächelte, als könnte sie ihre Freude über die Trennung nicht verhehlen. Obwohl das Kind seine Verzweiflung offen zeigte, hatte sie ihm keinen Trost zu bieten und fieberte nur noch ihrer Freiheit entgegen. »Benimm dich anständig«, mahnte sie, »und mach den Schwestern keinen Ärger. Sonst würde ich's erfahren.« Was das bedeutete, wussten beide. Aber es interessierte Gabriella nicht.
Mit aller Kraft klammerte sie sich an Eloise, weinte um die Mutter, die ihr nie vergönnt gewesen war, um den Vater, den sie geliebt und verloren hatte. Für das überwältigende Gefühl ihrer Einsamkeit fand sie keine Worte. Ihr tiefer Kummer ließ die Mutter völlig kalt, rührte aber das Herz der Oberin. Sie wartete ab, ob Mrs Harrison das Kind küssen und irgendwie trösten würde.
Stattdessen schob Eloise ihre Tochter energisch beiseite. »Leb wohl, Gabriella«, verabschiedete sie sich kühl.
Das kleine Mädchen starrte verzweifelt in die klugen alten Augen der Nonne, die ihren Blick erwiderte und alles verstand. In diesem Moment erkannte Gabriella klar und deutlich, was es heißt, verlassen zu werden. Immer noch schluchzend, schaute sie ihrer Mommy nach, die ohne ein weiteres Wort ungerührt die Tür hinter sich schloss.
Nun wusste sie, wie grenzenlos
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