Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Inzwischen wusste sie, dass sie noch grausamer verprügelt wurde, wenn sie sich in einem ihrer Schlupfwinkel verkroch. Deshalb fügte sie sich stets in ihr Schicksal. Aber jetzt hätte sie es vorgezogen, die heftigsten Schmerzen zu ertragen, statt mit ihrer Mutter die Eingangsstufen hinabzusteigen.
»Trödle nicht, Gabriella, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«, fauchte Eloise. Laut klickten ihre hohen Absätze auf dem Pflaster, als sie den Gehsteig überquerte und ein Taxi heranwinkte.
Warum nahm sie kein Gepäck mit? In diesem Augenblick erkannte Gabriella die Wahrheit. Wohin immer ihre Reise führen mochte, Mommy würde sie nicht bis zum Ziel begleiten. Aber wohin sollte sie gebracht werden, mit einem Koffer, an einem Samstagvormittag? Sie hatte keine Ahnung, und die Mutter verriet ihr nichts.
Eloise nannte dem Fahrer eine Adresse in den East Forties, die ihre Tochter nicht kannte. Immer schneller hämmerte Gabriellas Herz gegen die Rippen, während sie schweigend zwanzig Häuserblocks weit stadteinwärts fuhren. Die ungewisse Zukunft erfüllte sie mit wachsendem Grauen. Doch wenn sie jetzt eine Frage stellte, würde sie später bitter dafür büßen. Offenbar wollte Mommy nicht sprechen. In ihre eigenen Gedanken versunken, starrte sie durch das Autofenster. Ihrem Kind hatte sie nichts zu sagen. Ein oder zwei Mal schaute sie auf ihre Armbanduhr, anscheinend zufrieden, weil ihr Zeitplan nicht allzu gravierend durcheinander gebracht wurde. Als sie ein großes graues Haus an der Fortyeighth Street nahe dem East River erreichten, bebten Gabriellas Hände, und ihr Magen drehte sich um. Vielleicht hatte sie diesmal ein besonders schreckliches Verbrechen begangen, und Mommy brachte sie zur Polizei oder zu einer ähnlichen Behörde, damit sie von jemand anderem bestraft wurde. In einem Leben, das von Furcht und Entsetzen beherrscht wurde, so wie ihres, war alles möglich.
Eloise bezahlte das Taxi und stieg vor ihrer Tochter aus, die sich viel zu langsam bewegte und ungeschickt den Koffer mit sich schleppte. Beklommen musterte Gabriella das graue Gebäude, das nicht erkennen ließ, was sich darin befand und warum sie hierher gebracht wurde. Wenn es auch ein imposantes Haus war – es wirkte kalt und abweisend. Mommy drückte auf den Klingelknopf und ließ den Messingklopfer gegen das Holz fallen. Danach schien eine Ewigkeit zu verstreichen. Gabriella senkte den Kopf, damit ihre Mutter die Tränen nicht bemerkte, die sie vergeblich bekämpfte. Vor lauter Angst schlotterten ihr die Knie.
Endlich öffnete sich die Tür, nur einen Spaltbreit, und ein kleines Gesicht schaute heraus. »Ja?«
Gabriella konnte nicht weit genug an ihrer Mutter vorbeispähen, um festzustellen, ob die Person ein Mann oder eine Frau war. Jedenfalls erschienen ihr die Züge, die sie nur teilweise sah, alters- und geschlechtslos.
»Ich bin Mrs Harrison – man erwartet mich«, erklärte Eloise, verärgert über die Verzögerung. »Und ich habe es eilig«, fügte sie hinzu, während das undefinierbare Gesicht im Hintergrund verschwand, um die Angelegenheit zu klären, und die Tür ins Schloss fiel.
»Mommy ...«, begann Gabriella, von ihrer Furcht getrieben, obwohl sie ihr besseres Wissen zum Schweigen ermahnte. Aber sie ertrug es nicht länger. »Mommy ...« Ihre Stimme war ein zitterndes Flüstern.
Erbost wandte sich Eloise zu ihr. »Sei still! Das ist weder der rechte Ort noch der richtige Zeitpunkt für deine schlechten Manieren. Hier wird man dir nicht so viel durchgehen lassen wie ich.«
Also sollte sich Gabriellas Befürchtung bewahrheiten – sie wurde in ein Gefängnis gebracht, wo sie für alle ihre Missetaten in den letzten zehn Jahren büßen musste – jene schweren Vergehen, die sie die Liebe ihres Vaters gekostet hatten. In ihren Augen brannten neue Tränen. Beinahe gewann sie den Eindruck, sie würde auf ihr Todesurteil warten. Warum würde sie nicht nach Reno fahren? Oder war das Reno? Wurde dieses Haus so genannt? Wo war sie? Und was würde mit ihr geschehen?
Als sie schon glaubte, sie hätte den Gipfel ihres Entsetzens erreicht, schwang die schwere Tür wieder auf und enthüllte eine gähnende dunkle Höhle hinter einer uralten, verhutzelten Frau in schwarzer Tracht. Nach Gabriellas Ansicht glich sie einer Hexe, einen alten schwarzen Schal um die Schultern auf einen Stock gestützt. Wortlos bedeutete sie Eloise und Gabriella, in die Finsternis zu treten. Gegen ihren Willen schnappte das verängstigte Kind nach Luft, ein
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