Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
allein sie war, wie allein sie vielleicht immer sein würde. Sie wandte sich wieder zur Oberin, und da trafen sich plötzlich zwei Seelen, die weit gereist waren und die Schattenseiten des Lebens gesehen hatten – im Fall der Zehnjährigen viel zu früh. Wie festgewurzelt stand sie da, während Mutter Gregoria langsam zu ihr ging und sie schweigend in die Arme nahm, fest entschlossen, sie vor jener Welt zu schützen, die sie fast unheilbar verwundet hatte.
In der Kraft dieser Umarmung lag alles, was die alte Nonne wusste, fühlte und glaubte, alles, was sie dem Kind wünschte. Verblüfft sah Gabriella zu ihr auf. Dann senkte sie die Lider. Sie musste keine Erklärung hören. Instinktiv verstand sie die stumme Botschaft, erkannte den sicheren Hafen, den sie hier gefunden hatte. In ihrer Kehle stieg ein neues Schluchzen hoch, und das ganze bittere Leid der Vergangenheit brach sich in einem heißen Tränenstrom Bahn.
6
Ihre erste Mahlzeit im St. Matthew's Convent war ein Ritual, das ihr anfangs sehr sonderbar erschien und dann erstaunlichen Trost spendete. Beim Essen durften die Nonnen miteinander reden, was sonst nur selten geschah. Eine Stunde vor dem Dinner war Gabriella mit Mutter Gregoria in die Kirche gegangen, verwundert über die große Schwesternschar, fasziniert vom feierlichen Ernst der stummen Gebete. Aber im Speisesaal verwandelten sich die gesichtslosen, schwarz gekleideten Gestalten in heitere, glückliche, lachende Frauen.
Verwirrt stellte Gabriella fest, wie jung viele noch waren. Fast zweihundert Nonnen gehörten dem Kloster an, darunter über fünfzig Postulantinnen und Novizinnen um die zwanzig. Einige Schwestern waren so alt wie Mommy, doch die meisten befanden sich im Alter der Oberin. An der langen Tafel saßen auch ein paar Greisinnen. Mehrere Nonnen unterrichteten an der nahen St. Stephen's School, andere arbeiteten als Krankenschwestern im Mercy Hospital. Während der Mahlzeit drehten sich die Gespräche um politische und medizinische Themen, um Anekdoten aus den Schulklassen, um amüsante Ereignisse im klösterlichen Haushalt und im Garten. Sie scherzten und hänselten einander und redeten sich mit Spitznamen an.
Nach der Mahlzeit gewann Gabriella den Eindruck, jede Schwester hätte ein freundliches Wort zu ihr gesagt, sogar die alte Frau, die ihr am Morgen solche Angst eingejagt hatte. Sie hieß Schwester Mary Margaret. Wie das kleine Mädchen bald herausfand, wurde sie von allen Nonnen geliebt. Früher war sie Missionarin in Afrika gewesen, und nun lebte sie schon seit über vierzig Jahren im St. Matthew's. Als sie zahnlos grinste, handelte sie sich einen sanften Tadel der Oberin ein, weil sie wieder einmal ihr Gebiss vergessen hatte. Kichernd wandte sich eine junge Nonne zu Gabriella und erklärte: »Sie hasst ihre falschen Zähne.«
Überwältigt schaute sich Gabriella um und hatte das Gefühl, sie wäre in eine liebevolle Familie geraten, die aus zweihundert Frauen bestand. Und keine einzige schien schlecht gelaunt zu sein, zumindest nicht an diesem Abend.
Nie zuvor hatte sie so viele fröhliche Menschen auf einmal gesehen. Nachdem sie daheim jahrelang gleichsam über ein Minenfeld geschlichen war, um Mommys Wutanfälle zu vermeiden, glaubte sie jetzt, in einer Wolke aus weicher Watte zu versinken.
Die meisten Nonnen kamen auf sie zu, stellten sich vor und plauderten mit ihr. Erfolglos versuchte sie sich alle Namen zu merken. Schwester Timothy – Schwester Elizabeth von der unbefleckten Empfängnis – Schwester Ave Regina – Schwester Andrew oder »Andy«, wie sie genannt wurde – Schwester Joseph – Schwester John ... Nur einen einzigen Namen prägte sie sich sofort ein: Schwester Elizabeth oder »Lizzie«. So hieß eine schöne junge Frau mit milchweißen Wangen und freundlichen grünen Augen, die den zierlichen Neuankömmling sofort ins Herz schloss.
»Bist du nicht ein bisschen zu jung für eine Nonne, Gabbie? Aber der liebe Gott freut sich über die Hilfe aller seiner Schäfchen.« Noch nie war sie »Gabbie« genannt worden. Die grünen Augen lachten sie an. Am liebsten hätte sie sich stundenlang mit dem netten Mädchen unterhalten. Lizzie war Postulantin und sollte bald Novizin werden. Schon mit vierzehn Jahren sei sie zur Klosterschwester berufen worden, erzählte sie Gabriella. Damals habe sie an Masern gelitten und eine Vision der Heiligen Jungfrau gesehen. »Wahrscheinlich klingt das verrückt. Aber so was passiert manchmal.« Jetzt war sie einundzwanzig und
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