Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
solchen Sünde verleiten?«
Nun entstand ein langes Schweigen. Und dann antwortete Gabriella: »Weil sie
mich
hasst.« Sie sprach sehr leise, aber im Brustton der Überzeugung.
»Niemals hasst eine Mutter ihr Kind. Das würde der liebe Gott nicht erlauben.«
Doch der Allmächtige hatte so vieles gestattet, was ihr widerfahren war und was andere sicher nicht erdulden mussten. Vielleicht hasste er sie auch, weil sie so ein schlimmes Kind war. Obwohl – hier im St. Matthew's fiel es ihr schwer, daran zu glauben. »Ich weiß, dass meine Mutter mich verabscheut.«
Das bestritt der Priester erneut. Dann hörte er sich die restliche Beichte an und erlegte ihr zehn Ave-Marias auf. Bei jedem sollte sie reumütig an ihre Mutter denken und deren Liebe zur Tochter erkennen. Gabriella widersprach ihm nicht. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie schwer sie sich versündigte, weil sie Mommy hasste. Sie konnte es jedoch nicht ändern.
Schweigend betete sie im Kreis der Nonnen, dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Dort las Natalie in einer Zeitschrift, die sie heimlich gekauft hatte, einen Artikel über Elvis, und Julie drohte ihr, das würde sie Schwester Timmie erzählen. In diesen Streit mischte sich Gabriella nicht ein. Bedrückt dachte sie an die Worte des Priesters. Würde sie die Ewigkeit in der Hölle verbringen, als Strafe für ihren Hass gegen die Mutter? Was weder ein Priester noch ihr selbst in den Sinn kam – sie hatte zehn Jahre lang in der Hölle gelebt und sich mit ihrem Leid schon längst einen Platz im Himmel verdient.
Wie üblich schlief sie wieder am Fußende ihres Betts. Deshalb hänselten sie die beiden anderen Mädchen am Morgen, während sie sich alle anzogen. Aber sie meinten es nicht böse und erklärten, es sei so komisch gewesen, weil sie zu ihr herübergeschaut und geglaubt hatten, sie würde nicht in ihrem Bett liegen. Genau diesen Zweck hatte Gabriella stets verfolgt, wenn auch vergeblich, und die eigentümliche Position am Fußende des Betts war längst zur Gewohnheit geworden.
Sie gingen wieder zur Schule, und allmählich wurde der Alltag im St. Matthew's zur Routine. Gabriella lernte die Hymnen der Nonnen kennen, ihre Gebräuche, die Gebete für morgens, mittags und abends. Bald kniete sie automatisch auf dem Steinboden nieder, wenn die Kirchenglocken erklangen. Mit Feuereifer folgte sie dem Beispiel der Nonnen. Mitte Mai wusste sie, wie sie alle hießen und womit sie sich beschäftigten. Unbefangen plauderte sie beim Dinner mit den Frauen, und wann immer es möglich war, suchte sie Mutter Gregorias Gesellschaft. Die beiden sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich wohl, wenn sie zusammen waren. Gegen Ende Mai wurde Gabriella ins kleine Büro der Oberin gerufen und entsann sich, wie sie es zum ersten Mal mit ihrer Mutter betreten hatte. So lange war das schon her – sechs Wochen ... Seither hatte sie nicht einmal eine Ansichtskarte von Mommy erhalten. Doch sie wusste, dass die Mutter bald zurückkehren würde.
Auf dem Weg zu Mutter Gregorias Büro überlegte sie, ob sie irgendetwas verbrochen hatte und Vorwürfe hören würde. Schwester Mary Margaret war ins Schulzimmer gekommen, um sie zu holen, und das erschien ihr irgendwie bedrohlich.
»Bist du glücklich in unserem Kloster, mein Kind?«, fragte die Oberin lächelnd und schaute in die blauen Augen, die Gabriellas Jugend Lügen straften. In diesem Blick lag nichts von der Unschuld einer normalen Zehnjährigen. Mittlerweile wirkte Gabriella etwas offenherziger. Trotzdem spürte die Oberin immer noch die Angst des Kindes vor den Menschen, die ihm wehtun könnten. Manchmal neigte es zu übertriebener Vorsicht. Wie die alte Nonne festgestellt hatte, ging Gabriella zwar oft zur Beichte, aber die Dämonen der Vergangenheit schienen sie weiterhin zu plagen. »Fühlst du dich hier zu Hause?«
»O ja, Mutter Gregoria«, antwortete Gabriella und runzelte beunruhigt die Stirn. »Stimmt was nicht? Habe ich mich schlecht benommen?« Wie man sie bestrafen würde, wusste sie nur zu gut. Kalte Angst stieg in ihr auf.
»Unsinn, du hast nichts angestellt. Warum machst du dir Sorgen?« So viele Fragen wollte die Oberin stellen. Aber das wagte sie nicht einmal nach diesen sechs Wochen. Es war zu früh, um in die Seele des Kindes einzudringen. Vielleicht würde sie niemals eine Gelegenheit dazu finden. Sogar eine Zehnjährige hatte ein Recht auf ihren privaten Kummer und ihre Geheimnisse.
»Als Schwester Mary Margaret mich hierher führte, dachte ich,
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