Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
lachte leise.
»Ich glaube, du wirst alles hören, was wichtig ist.« Dann wurde sie wieder ernst. Mühsam verbarg sie ihren Kummer, während sie ihren kleinen Schützling betrachtete. Wie schrecklich musste es für ein Kind sein, mit der Gewissheit zu leben, dass es seinen Eltern nichts bedeutete ... Nun, vielleicht würde sich diese Tragödie sogar in einen Segen verwandeln. Auch Gabriella schien das zu spüren, trotz der bitteren Erkenntnis, weder Mommy noch Daddy würden sich je wieder um sie kümmern. Als sie über den Entschluss ihrer Mutter informiert worden war, hatte sie keine einzige Träne vergossen. »Du bist ein starkes, tapferes Mädchen«, fuhr Mutter Gregoria fort.
Aber Gabriella schüttelte den Kopf. Warum behauptete die Oberin so etwas, wenn es nicht stimmte? Auch der Vater hatte ähnliche Worte gebraucht, bei jener letzten Begegnung. Doch sie fühlte sich nicht stark, nur einsam und verängstigt. Was würde geschehen, wenn sie nicht hier bleiben konnte? Wohin sollte sie gehen? Wer würde für sie sorgen? Sie sehnte sich nach einer Zufluchtsstätte, wo sie sich nie mehr verstecken müsste und völlig sicher wäre, wo ihr niemand wehtun würde. Das verstand Mutter Gregoria sehr gut. Sie erhob sich und trat hinter dem Schreibtisch hervor. Schweigend umarmte sie das zitternde Kind, so wie bei seiner Ankunft. Diesmal schluchzte Gabriella nicht, begehrte nicht gegen ihr Schicksal auf, aber sie klammerte sich an den einzigen Menschen, der ihr jemals Liebe geschenkt und Trost gespendet hatte. Nach einer Weile schaute sie zu der alten Frau auf. In ihren Augen lag eine so bezwingende Kraft, dass die Oberin beinahe erschauerte.
»Verlassen Sie mich nicht«, wisperte Gabriella. »Schicken Sie mich nicht weg.« Langsam rollten zwei Tränen über ihre Wangen, und sie schmiegte sich verzweifelt an die gütige alte Frau.
»Nein, ich lasse dich nicht im Stich, Gabbie«, beteuerte Mutter Gregoria. Wie gern würde sie dem Kind noch viel mehr versprechen ... »Jetzt bist du hier daheim.«
Erleichtert nickte Gabriella und presste ihr Gesicht in die Falten der schwarzen Tracht, die ihr so vertraut geworden war. »Ich habe Sie sehr lieb.«
»Und ich dich – wir alle lieben dich.«
An diesem Nachmittag saßen sie lange beisammen und hielten sich an den Händen, sprachen über Gabriellas Mutter und überlegten, warum sie ihr Kind nicht zu sich holen wollte. Das verstanden sie beide nicht. Schließlich entschieden sie, es würde keine Rolle spielen. Sie mussten Eloises Entschluss akzeptieren. Ihre Tochter hatte im Kloster ein neues Zuhause gefunden. Mutter Gregoria begleitete sie zu ihrem Zimmer. Für die Schule war es zu spät geworden.
Gabriella blieb mit ihren Gedanken allein, mit ihren Visionen von Mommy, mit ihren Erinnerungen – an die Schlupfwinkel, wo sie sich so oft vergeblich versteckt hatte – an die Grausamkeit, die Prügel ... Das alles würde sie nie mehr erleiden. Aber es fiel ihr schwer zu glauben, dass die Qualen endgültig überstanden waren. Wie gern hätte sie eine neue Chance erhalten, sich zu bessern, alles richtig zu machen, die Liebe ihrer Mutter zu erringen und sie zu beglücken, statt zu erzürnen ... Sie war so schlimm gewesen, dass Mommy sie verlassen hatte. Das wollte sie der Oberin nicht gestehen, denn die gute Frau durfte nicht erfahren, wie grässlich sie sich benommen hatte. Was mit ihr geschehen war, hatte sie verdient. Da die Eltern sie hassten, konnte sie nicht hoffen, jemand anderer würde ihr liebevoll begegnen. Und doch – die Nonnen schienen sie zu mögen. Vielleicht auch der liebe Gott, obwohl er über ihre Sünden Bescheid wusste.
Schluchzend sank sie auf ihr Bett und dachte an die Eltern, die sie schmerzlich vermisste. Nie würde sie die beiden wiedersehen, denn sie hatte sie mit ihrer Ungezogenheit vertrieben. Mit dieser Tatsache musste sie sich abfinden. Es war ihr Schicksal, die Strafe für ihre Missetaten, der Fluch ihres Lebens. Niemand, der ihr wahres Wesen kannte, würde sie lieben. Daran konnten die Beichten, die zahllosen Ave-Marias und Rosenkränze nichts ändern.
Während des restlichen Tages kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Mutter Gregorias Worten zurück – und zu Mommy, die jetzt in Kalifornien lebte. Beim Dinner war sie ungewöhnlich schweigsam. Danach ging sie wie gewohnt zur Beichte, und schließlich folgte sie Natalie und Julie in ihr Zimmer. Zusammengerollt lag sie am Fußende ihres Betts und überdachte noch einmal ihre Situation. Mommy
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