Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
bevor sie dich nach San Francisco holt, will sie abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Das ist sehr vernünftig. Wenn du auch unter der Trennung leidest – ich finde es sehr rücksichtsvoll von deiner Mutter, dich hier zu lassen, in der Obhut von Menschen, die gut für dich sorgen.«
Ein schöner Gedanke ... Aber Gabriella wusste, dass es komplizierter war, und sie verstand die subtilen Nuancen besser, als es ihrem Alter entsprach. »Meine Eltern hassen einander. Und Mommy sagt, sie hätten mich nie geliebt.«
»Das glaube ich nicht – du etwa?«, fragte Mutter Gregoria sanft. Hoffentlich nicht, dachte sie, fürchtete jedoch, die Harrisons hätten unverhohlen gezeigt, was sie für ihre Tochter empfanden.
Am Telefon hatte Eloise kein Blatt vor den Mund genommen und betont: »Ich will sie nicht bei mir haben.« Eher würde sich die Oberin die Zunge herausschneiden, als dem Kind davon zu erzählen.
»Vielleicht liebte mich mein Vater. Aber er hat nichts getan, um ...« Die Augen voller Tränen, erinnerte sich Gabriella, wie oft er hilflos mit angesehen hatte, wie sie verprügelt worden war. Oder er hatte im Nebenraum ihr schmerzliches Geschrei gehört. Wie konnte er sie geliebt haben? Außerdem war er fortgegangen, ohne zurückzublicken. Nie hatte er ihr geschrieben, kein einziges Mal angerufen. Dass er sie jetzt noch liebte, war unwahrscheinlich – wenn er sie überhaupt je geliebt hatte, woran sie schon seit einiger Zeit zweifelte. Nun wurde sie auch von der Mutter verlassen. Darüber freute sie sich sogar. Wenigstens musste sie keine Schläge mehr ertragen, sich nicht verstecken und um Gnade bitten. Nie wieder würde die Mutter sie krankenhausreif prügeln. Und Gabriella brauchte nicht mehr auf den Moment zu warten, in dem sie an ihren Verletzungen sterben würde. Es war vorbei. Was Mommy für sie empfand, nämlich gar nichts, stand jetzt eindeutig fest. Sie verschwendete kaum noch einen Gedanken an die Tochter, der Kampf hatte ein Ende gefunden – ebenso wie Gabriellas Traum, eines Tages würde sie doch noch die Liebe ihrer Mutter gewinnen. »Wahrscheinlich kommt sie nie mehr nach New York.« Sie schaute in die Augen der Oberin, die nicht lügen wollte, als sie diesen forschenden Blick erwiderte.
»Das weiß ich nicht, Gabbie. Ich glaube, sie weiß es selber nicht. Irgendwann kehrt sie vielleicht zurück. Aber es wird sehr lange dauern.« Es war die ehrlichste Erklärung, die sie abgeben konnte, ohne die ganze Wahrheit zu verraten.
Aber Gabriella hatte ohnehin erkannt, dass sie von beiden Eltern im Stich gelassen wurde. »Sie kommt nie mehr zu mir. Und mein Vater auch nicht. Mommy hat gesagt, er wird eine andere Frau heiraten und Kinder kriegen.«
»Deshalb liebt er dich nicht weniger.« Andererseits hatte er nie versucht, Kontakt mit seiner Tochter aufzunehmen. Und Mutter Gregoria fürchtete, die Mutter würde sich genauso wenig um Gabriella kümmern. Was für verachtenswerte Menschen, dachte sie. Wie konnte man ein so liebenswertes, gutes kleines Mädchen dermaßen vernachlässigen? Aber sie hatte schon oft um Kinder geweint, die ein ähnliches Schicksal erlitten, und sie war froh, dass sich die Nonnen ihres Ordens um die bedauernswerte Gabbie kümmern konnten. Vielleicht hatte der Allmächtige sie sogar hierher geschickt, weil sie im St. Matthew's am besten aufgehoben war. »Eines Tages könntest du den Wunsch empfinden, für immer in unserem Kloster zu bleiben. Wenn du erwachsen bist. Möglicherweise ließ der liebe Gott das alles nur geschehen, damit du den Weg zu uns findest.«
»Meinen Sie – so wie Julie?« Verwirrt hob Gabriella die Brauen. Wie sollte sie jemals Nonne werden und auf einer Stufe mit diesen guten Frauen stehen? Dafür war sie viel zu unartig. Das wussten sie bloß nicht ...
Ihre Gedanken kehrten zu Mommy zurück. Hatte sie schon bei ihrer Abreise gewusst, dass sie nicht zurückkommen würde? Vermutlich ... Bei Daddys Abschied hatte Gabriella wenigstens Zärtlichkeit und ein gewisses Bedauern gespürt. Aber die Mutter hatte sie ins St. Matthew's gebracht, ohne irgendwelche Gefühle außer Ärger und Ungeduld zu zeigen, und die Trennung schien sie kaum erwarten zu können.
»Wenn die Zeit reif ist, wirst du wissen, ob du zum Klosterleben berufen bist, Gabriella. Du musst aufmerksam in dich hineinhorchen. Dann müsstest du die Stimme Gottes vernehmen, falls sie zu dir spricht.«
»Manchmal höre ich schlecht«, gestand Gabriella mit einem scheuen Lächeln, und die Oberin
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