Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
würde einen anderen Mann heiraten, Daddy eine andere Frau. Wahrscheinlich wünschten sie sich in ihrem neuen Leben Kinder –
artige
Kinder. Und Gabriella musste die Erkenntnis verkraften,
warum
die Eltern sie verlassen hatten. Wäre sie brav gewesen, müsste sie das alles nicht erdulden. Doch sie würde sehr viel Zeit finden, um ihre Sünden zu bereuen. Indem sie ihr Leben dem Allmächtigen und ihren Mitmenschen weihte, wollte sie Buße tun. An diesem Abend hatte der Priester ihr erklärt, jetzt sei sie für sich selbst verantwortlich und müsse die Verzeihung des Herrn anstreben.
Das sagte sie sich immer wieder, bis sie einschlief. Verzeihung ... Verzeihung ... Auch sie würde den Eltern vergeben, denn was geschehen war, hatte nur sie allein verschuldet.
In der Nacht hallte das Echo ihres Geschreis durch die langen dunklen Flure. Drei Nonnen mussten sie mit vereinten Kräften wachrütteln. Schließlich wurde die Oberin verständigt, der es nur mühsam gelang, das Kind zu besänftigen. Der Traum von den Schlägen war so wirklichkeitsnah gewesen, dass Gabriella blutende Wunden am Kopf und schreckliche Schmerzen in ihrem Ohr und den gebrochenen Rippen spürte. Niemals würde sie das alles vergessen.
Schluchzend lag sie in Mutter Gregorias Armen und würgte unentwegt hervor: »Ich muss ihnen verzeihen – ich muss ihnen verzeihen ...« Schweigend wiegte die Oberin ihren Schützling in den Schlaf und beobachtete ihn, bis sich das blasse Gesicht entspannte, bis die kleine Seele innere Ruhe fand. Sie glaubte zu wissen, wie viel Gabriella den Eltern zu verzeihen hatte. Dafür würde sie sehr lange brauchen – vielleicht bis zu ihrem letzten Atemzug.
7
Im sicheren Hafen des Matthew's Convent verbrachte Gabriella vier friedliche Jahre. Während sie weiterhin zur Schule ging, trug Julie die Tracht einer Novizin, und ihre Schwester Natalie bekam ein Stipendium an einem College. Inzwischen war sie nicht nur von Elvis fasziniert, sondern auch in leidenschaftlicher Liebe zu allen vier Beatles entbrannt. Sie schrieb den Nonnen sehr oft aus ihrem College im Norden des Staates New York, wo sie eifrig studierte, mit Jungs ausging und alles – oder zumindest fast alles – nachholte, wovon sie im Kloster geträumt hatte.
Inzwischen waren neue Hausgäste eingetroffen, zwei kleine Mädchen aus Laos, von Missionarinnen ins St. Matthew's geschickt. Sie teilten sich das Zimmer, das Julie und Natalie verlassen hatten, mit Gabriella.
In diesen vier Jahren hatte sie nichts von ihrer Mutter gehört. Aber hin und wieder dachte sie an sie, auch an den Vater. Sie wusste nur, dass er nach Boston übersiedelt war und geplant hatte, eine Frau mit zwei Töchtern zu heiraten. Was seither mit ihm geschehen war, konnte sie nicht herausfinden. Die Mutter lebte nach wie vor in San Francisco. Jeden Monat erhielt Mutter Gregoria einen Scheck über die vereinbarte Summe, mit der Gabriellas Lebensunterhalt bestritten wurde. Kein einziges Mal lag ein Brief bei. Wie es ihrer Tochter ging, schien Eloise Waterford nicht zu interessieren. Weder zu Weihnachten noch an Geburtstagen schickte sie dem Kind Glückwunschkarten oder Geschenke. Gabriellas Leben konzentrierte sich ausschließlich auf St. Matthew's. Hier wurde sie geliebt. Sie machte sich im Haushalt nützlich, schrubbte Böden, Tische und Bäder und übernahm sogar die unangenehmeren Pflichten, vor denen die Nonnen zurückschreckten. In der Schule bekam sie hervorragende Noten. Sie schrieb immer noch Geschichten und Gedichte, und alle Lehrerinnen lobten ihr Talent.
Wie sie es gewohnt war, schlief sie am Fußende ihres Betts, von Albträumen heimgesucht, was sie der Oberin verschwieg. Mutter Gregoria beobachtete sie unauffällig und sorgte sich, obwohl der Kummer in den blauen Augen ein wenig nachgelassen hatte.
Gabriella wuchs zu einer Schönheit heran. Doch ihr Aussehen interessierte sie kein bisschen. Sie lebte in einer Welt ohne Eitelkeit. Im Kloster gab es keine Spiegel. Sie trug die abgelegten Kleider der Postulantinnen und dachte sich nichts dabei. So wie sie es mit zehn Jahren beschlossen hatte, opferte sie ihr Leben Gott und ihren Mitmenschen. Aber wann immer die Nonnen mit ihr über die Zukunft sprachen, erklärte sie ihnen, sie würde sich nicht berufen fühlen, ihrem Beispiel zu folgen. Wenn sie sich mit den Novizinnen verglich, bemerkte sie, wie sehr sie sich von diesen Mädchen unterschied. Sie waren so sicher, dass sie den richtigen Entschluss gefasst hatten. Gabriella sah jedoch
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