Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Stunde einen ganzen märchenhaften Urlaub zu erleben. So wenig Zeit hatten sie füreinander. Und sie wünschten sich viel mehr. Jeder Augenblick, den sie miteinander teilten, war ein unschätzbares Geschenk. Ein paar Tage später trafen sie sich wieder im Central Park. Diesmal lagen sie unter einem Baum im Gras. Den Kopf in Gabriellas Schoß, schaute Joe zu ihr auf, und sie streichelte sein Haar. Aufmerksam hörte sie ihm zu. So viel gab es zu sagen, und die Minuten verstrichen wie üblich zu schnell.
Was die Zukunft bringen würde, wussten sie nach wie vor nicht. Ein beschwerlicher Weg erstreckte sich vor ihnen, obwohl sie ihrer Gefühle sicher waren. In ähnlichen Situationen hatten sich schon zahlreiche Priester befunden. Joe wäre nicht der erste und nicht der letzte, der sein Amt um der Liebe willen aufgab. Doch er wusste, welch ein Aufsehen er erregen, wie viele Menschen er enttäuschen würde. Deshalb zögerte er und erklärte Gabriella, was ihn bedrückte.
»Wir brauchen einfach mehr Zeit«, erwiderte sie und gehorchte der Stimme ihrer Vernunft. »Bevor du eine solche Entscheidung triffst, musst du gründlich darüber nachdenken.«
Das hatte er bereits getan. Vor allem nachts, wenn er sehnsüchtig auf die nächste Begegnung mit seiner Liebsten wartete, auf gestohlene Küsse im Beichtstuhl und hastige Umarmungen im kleinen Büro. Dass er jemals in einen so qualvollen Konflikt geraten würde, hatte er, bevor Gabriella in sein Leben getreten war, für unmöglich gehalten.
Inzwischen hatte sie begonnen, ihre Gefühle und Träume einem Tagebuch anzuvertrauen. Das wollte sie Joe eines Tages schenken – einen endlosen Liebesbrief. Diese Aufzeichnungen verwahrte sie in ihrer Schublade, in der Unterwäsche verborgen. Niemand würde das Tagebuch finden. Wenn sie eine Seite nach der anderen voll schrieb, sprach sie gewissermaßen mit Joe.
»Wann treffen wir uns wieder hier draußen?«, fragte er eines Nachmittags, als er sie zum Auto zurückbegleitete.
»Vielleicht nächste Woche.« Dann würden die älteren Nonnen nach Lake George fahren. Dort hatte ihnen jemand ein Sommerhaus zur Verfügung gestellt, und Mutter Gregoria konnte ihnen ein paar Tage lang helfen, sich häuslich niederzulassen. Für Gabriella mochte das bedeuten, dass sie sich etwas mehr Freiheiten erlauben durfte – oder das Gegenteil. Solche Dinge ließen sich im Kloster nur schwer abschätzen.
Nachdem die Nonnen abgereist waren, konnte sie einen ganzen Nachmittag lang tun, was ihr gefiel. An diesem Tag gingen die anderen Postulantinnen zum Zahnarzt, und sie würden erst in einigen Stunden zurückkehren. Zum Glück war Gabriella schon vor zwei Monaten beim Zahnarzt gewesen. Deshalb blieb sie im St. Matthew's. Sie erklärte der Nonne, die in Mutter Gregorias Abwesenheit die Aufsicht führte, im Gemüsegarten seien Probleme aufgetaucht und sie würde dringend ein Unkrautvertilgungsmittel brauchen. Die alte Frau, die an chronischen Kopfschmerzen litt, gab ihr kommentarlos den Autoschlüssel.
Ohne anzukündigen, wann sie zurückkommen würde, verließ Gabriella das Haus und stieg in den Kombi. Zwei Häuserblocks weiter betrat sie wie üblich die Telefonzelle und rief Joe an. Glücklicherweise war er selbst am Apparat. An diesem Tag hatte er nicht erwartet, von ihr zu hören. Aber in den letzten Wochen verließ er die St. Stephen's School nur noch selten, weil er fürchtete, ihren Anruf zu verpassen – die ersehnte Gelegenheit, sie zu treffen.
»Wie lange hast du Zeit?« Diese Frage stellte er jedes Mal. Begeistert hielt er den Atem an, als sie erwiderte, sie könnten einige Stunden zusammen verbringen. Darauf hatte er sehnsüchtig gewartet, und jetzt vermochte er kaum zu glauben, dass der Traum Wirklichkeit geworden war. Vor über einem Monat hatten sie zum ersten Mal im Washington Square Park auf einer Bank gesessen. »Treffen wir uns in der Fifty-third Street.« Er nannte eine Adresse, nur ein paar Häuserblocks von der Telefonzelle entfernt. Ein paar Minuten vor Joe erreichte sie den Treffpunkt, nahm ihre Nonnenhaube ab und wartete im Kombi. Er parkte sein Auto auf der anderen Straßenseite und eilte zu ihr. Einen Arm um ihre Schultern gelegt, führte er sie an den Häusern vorbei, schweigsam und nachdenklich.
»Gehen wir nicht in den Park?«, fragte sie erstaunt.
»Da ist es heute zu heiß.« In dieser Gegend würden sie niemandem begegnen, der sie kannte. Deshalb hatte er Gabriella hierher bestellt. Zögernd erzählte er ihr, ein alter
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