Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
zu schätzen wussten. Es gab also keinen Grund, warum sich das ändern sollte.
»Ich würde gern mit dir in den Central Park gehen – oder am Fluss entlangwandern.« Seit Tagen überlegte er, was er alles mit ihr unternehmen wollte. Aber sie fanden zu wenig Zeit füreinander.
Um halb zwölf begleitete er sie zum Kombi zurück. Die gemeinsamen Minuten waren so ausgefüllt gewesen, dass sie ihnen wie Stunden erschienen. Alles war genauso wundervoll, wie sie's sich vorgestellt hatten. Dieses Glück wollten sie möglichst bald wiederholen. Als er Gabriella zum Abschied küsste, war ihr sein Körper so nahe, dass sie zunächst erschrak. Doch dann schmiegte sie sich voller Hingabe an ihn. »Pass gut auf dich auf, Gabbie. Und sei vorsichtig. Du darfst niemandem was erzählen«, mahnte er überflüssigerweise.
»Nicht einmal Schwester Anne?«, scherzte sie, und er lachte. Könnte er doch mit ihr ins St. Matthew's gehen oder sie an diesem Abend besuchen ... Er wollte sich einfach so verhalten wie alle verliebten Männer. Mit seinen einunddreißig Jahren hatte er noch nie eine Frau geliebt und sich niemals gestattet, auch nur daran zu denken. Nicht einmal auf einen harmlosen Flirt hatte er sich eingelassen. Und plötzlich versank er in einer völlig neuen Fantasiewelt. Es war, als ob ein Damm in seinem Herzen gebrochen war, und er konnte die Flut der Gefühle, die ihn durchströmten, nicht aufhalten.
Er stand neben dem Kombi und beobachtete sie, während sie die Nonnenhaube aufsetzte. Wie ein kleines Mädchen sah sie aus, als sie mit großen blauen Augen zu ihm aufschaute. Bei diesem Anblick empfand er den verrückten Wunsch, einfach ihre Hand zu ergreifen und mit ihr wegzulaufen. Doch sie wussten nicht einmal, wann sie sich das nächste Mal in der faszinierenden Außenwelt begegnen würden.
»Morgen sehen wir uns bei der Beichte«, sagte sie, und er nickte wehmütig. Dieses Wiedersehen würde ihm nicht genügen.
»Hast du immer noch den Schlüssel zu dem unbenutzten Büro?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ich weiß, wo ich ihn finde«, erwiderte sie lächelnd.
Wenn sie sich in jenem kleinen Raum trafen, riskierten sie sehr viel. Aber mit dem hastigen Geflüster im Beichtstuhl konnten und wollten sie sich nicht begnügen.
Nach einem letzten Kuss startete sie den Motor, winkte Joe zu und fuhr durch den dichten Mittagsverkehr zum St. Matthew's zurück. Eine Postulantin half ihr, die Fracht auszuladen. Nach dem traumhaften Rendezvous fühlte Gabriella sich wie neugeboren, mit unerschütterlicher Kraft erfüllt. Mühelos trug sie die bleischweren Stoffballen ins Haus.
Sie aß mit den Schwestern zu Mittag, dann arbeitete sie im Garten, und nach dem Dinner zog sie sich in ihr Zimmer zurück, um endlich wieder zu schreiben. Etwas später kam Mutter Gregoria zu ihr und fragte, ob Gabriella neue Geschichten verfasst habe. Sie hatten in letzter Zeit nur selten miteinander gesprochen. Nun freute sich die Oberin, weil Gabbie so blühend aussah. Die Lehrerin der Postulantinnen hatte erklärt, Schwester Bernadette sei ihre beste Schülerin und könne es kaum erwarten, das Gelübde abzulegen. Bis dahin würde es noch einige Zeit dauern. Aber das Mädchen sei auf dem besten Weg.
Als Mutter Gregoria das Zimmer verließ, wurde Gabriella zum ersten Mal seit dem Beginn ihres Liebesglücks von Schuldgefühlen geplagt. Seit Joes Geständnis waren erst zwei Wochen verstrichen. Und doch kam es ihr wie ein ganzes Leben vor.
Wenn die Oberin Bescheid wüsste, wäre sie traurig und enttäuscht ... Aber Gabriella konnte einfach nicht auf ihre Liebe verzichten.
Am nächsten Morgen traf sie Joe im Beichtstuhl und nachmittags in dem kleinen Büro. Nachdem sie am Vortag fast anderthalb Stunden im Washington Square Park verbracht hatten, fanden sie diese wenigen gestohlenen Minuten eher qualvoll als erfreulich. Gabriella erhielt vorerst keine Aufträge, die sie in die New Yorker Straßen führten. Schließlich vergingen volle zwei Wochen, bis sie das Kloster erneut verlassen konnte. Zwischenzeitlich trieb die Sehnsucht die Liebenden fast zur Verzweiflung.
Genauso, wie er es erhofft hatte, schlenderten sie durch den Central Park, um den Teich herum, beobachteten spielende Kinder und Erwachsene in den Ruderbooten. Langsam wanderten sie in nördliche Richtung. Der Park leuchtete in frischem sommerlichem Grün. Irgendwo in der Ferne musizierte eine Steelband. Jedes Mal, wenn Gabriella mit Joe zusammen war, glaubte sie zu träumen und in einer einzigen
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