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Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home

Titel: Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danielle Steel
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wirst du immer besitzen. Immer werde ich dich lieben, immer bei dir sein. Ohne dich kann ich nicht leben – aber ebenso wenig mit dem Kummer, den ich anderen bereiten würde, wenn ich ihnen beweise, wie wertlos ich bin. Sollte ich trotz allem beschließen, der Kirche den Rücken zu kehren, wären wir niemals glücklich. Jetzt weiß ich, dass ich auf dich verzichten muss – so schwer es mir auch fällt. Vor langer Zeit wurde mein Abkommen mit dem Herrn getroffen. Was ich dir versprach, vermag ich dir nicht zu geben, weil es mir nicht mehr zusteht. Aber ich fühle mich außer Stande, dieses Leben fortzusetzen, in deiner Nähe. Nun gehe ich zu Jimmy und Mom. Hier habe ich mein Bestes getan und in den Jahren meiner Priesterschaft einigen Menschen neuen Lebensmut gegeben. Wie soll ich ihnen jetzt noch gegenübertreten, in der Gewissheit, wie wenig sie mir bedeuten, wie sehr ich dich liebe? In der St. Stephen's School kann ich nicht mehr leben, von dir kann ich mich nicht trennen. Und so zerrissen, wie ich mich fühle – wäre ich unserem Baby jemals ein guter Vater? O Gabbie, du bist stark ...
    Schon wieder die verhassten Worte, die ihr neue Tränen in die Augen trieben ...
Weil du viel stärker bist als ich, wirst du unserem Kind eine wunderbare Mutter sein – vom Himmel aus – falls ich jemals dorthin gelange – werde ich euch beobachten, glücklich und zufrieden. Eines Tages musst du unserem Kind erzählen, wie sehr ich es liebte, wie sehr ich dich liebte – und dass ich immer bestrebt war, ein guter Mensch zu sein ... O Gott, Gabbie, verzeih mir, was ich dir antat und was ich jetzt vorhabe. Möge euch der Allmächtige schützen ... Bete für mich, Gabbie – dann werde ich vielleicht irgendwann mein ewiges Seelenheil finden ...
    Ganz unten in der rechten Ecke des zweiten Blatts stand die schlichte Unterschrift – 
Joe.
    Eine Zeit lang saß sie reglos da, starrte den Brief an und schluchzte leise. Jetzt verstand sie, was in ihm vorgegangen war. Er litt unter der Enttäuschung, die er einigen Menschen bereitet hatte, und er hielt sie für stark – aber nur weil er nicht wagte zu tun, was er sich wünschte. Er war viel ängstlicher gewesen als sie. Aber das Baby, an das er so liebevoll gedacht hatte, lebte nicht mehr. Hätte er doch den Mut gefunden, die St. Stephen's School zu verlassen ... Dann hätte sie ihm seine falschen Ansichten vor Augen geführt und ihm gezeigt, wie glücklich sie miteinander geworden wären. Niemanden hatte er enttäuscht – bis zu jener Nacht, wo er freiwillig aus dem Leben gegangen war. Weil er sich schwach gefühlt und sie für stark gehalten hatte. Welch eine verhängnisvolle Selbsttäuschung ...
    In gewisser Weise erinnerte er sie an ihren Vater. Joe war ebenso fortgegangen. Und er hatte ihr nichts hinterlassen außer diesem Brief. Unaufhaltsam rannen Tränen über ihre Wangen, während sie die leidvollen Zeilen immer wieder las. So viel Kummer, so viel Angst! Die qualvollen Schuldgefühle, obwohl er weder für den Tod seines Bruders noch für den Selbstmord seiner Mutter verantwortlich gewesen war ...
    Doch wer trägt die Schuld an Joes Tod, fragte sie sich. Nur ich allein ... Denn sie hatte ihn zu einem Ort geführt, der nicht für ihn bestimmt gewesen war, in den Abgrund eines neuen Fehlschlags. Mit ihrer Liebe hatte sie ihn zum Rand einer steilen Klippe gedrängt. Und er war hinabgesprungen, weil er keinen anderen Ausweg gesehen hatte. Sie blieb zurück – verdammt zu einem leeren Leben in diesem trostlosen Zimmer, allein mit ihren Erinnerungen und einem Brief, der ihr versicherte, sie sei stark. Natürlich musste sie stark sein, nachdem Joe sich für die Schwäche entschieden hatte.
    Während sie seine Zeilen zum zehnten Mal las, geriet sie plötzlich in Wut, nahm ihm übel, was er nicht gewagt und nicht versucht hatte, was ihm nicht wichtig genug gewesen war, um dafür weiterzuleben. Stattdessen war er davongelaufen, zu seiner Mutter und seinem Bruder. Genauso wie seine Mom hatte er den Tod gewählt – zu feige, um zu kämpfen und die Chance auf eine glückliche Zukunft mit der geliebten Frau zu nutzen. Nun musste Gabbie den Überlebenskampf ohne ihn aufnehmen. Wäre er noch bei ihr, würde sie ihn anschreien und mit aller Kraft schütteln. Hätte sie doch bloß gewusst, was in seiner Seele vorgegangen war ... Beschwörend hätte sie mit ihm gesprochen, ihre Argumente vorgebracht und sich sogar von ihm getrennt, wenn es nötig gewesen wäre, um ihn am Leben zu erhalten.

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