Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
zwei Dollar pro Stunde verdiente, würde sie die Miete problemlos bezahlen können. Von dem Geld, das Mutter Gregoria ihr gegeben hatte, war nicht mehr viel übrig. »Ich arbeite in einem Restaurant an der Eighty-sixth Street.« Weil Mr Baums Lokal nur vier Häuserblocks entfernt lag, fand sie den Job ideal, von der langen Arbeitszeit abgesehen. Hoffentlich würde sie sich nicht überanstrengen und die Gefahr neuer Blutungen heraufbeschwören. Seit ihrer Fehlgeburt und Joes Tod waren knapp zwei Wochen verstrichen – und vor einer Woche hatte sie notgedrungen das Kloster verlassen. So viele schreckliche Ereignisse ... Aber inzwischen sah sie immerhin einen schmalen Silberstreif am Horizont.
»Herzlichen Glückwunsch!«, rief Mrs Boslicki heiter. »Vielleicht werden Sie jetzt an manchen Abenden ins Wohnzimmer kommen und fernsehen. Meine anderen Gäste glauben, ich hätte Ihr Zimmer an einen Handelsreisenden vermietet.«
»Ich muss täglich bis Mitternacht arbeiten. Aber heute komme ich runter, das verspreche ich.«
»
Nachdem
Sie essen gegangen sind. Wie eine Bohnenstange sehen Sie aus. Wenn Sie nicht ein bisschen Fleisch ansetzen, werden Sie nie einen Mann kriegen. Die Jungs mögen nun mal keine mageren Mädchen.« Mahnend hob die Pensionswirtin einen Finger, und Gabriella lachte. Mrs Boslicki erinnerte sie an eine der alten Nonnen im St. Matthew's. Dort war ihr allerdings nie erklärt worden, sie müsse einen Mann einfangen ...
An diesem Abend befolgte sie den Rat der Vermieterin, ging in den schäbigen Schnellimbiss auf der anderen Straßenseite und bestellte eine Portion Hackbraten – ein schlichtes, nahrhaftes Essen, das den Mahlzeiten im Kloster glich. Bei diesem Gedanken wurde sie von qualvollem Heimweh erfasst. Wie gern würde sie Mutter Gregoria wiedersehen – nur für einen kurzen Moment, wenn die alte Nonne durch einen Flur eilte, ihre Hände in die weiten schwarzen Ärmel geschoben, mit leise klapperndem Rosenkranz ... Auch die anderen Schwestern würden einen willkommenen Anblick bieten – Schwester Agatha, Schwester Timothy, Schwester Emanuel oder Schwester Immaculata ... Auf dem Rückweg zur Pension dachte sie sehnsüchtig an all die geliebten Frauen. Dann fiel ihr ein, dass sie Mrs Boslicki versprochen hatte, das Wohnzimmer aufzusuchen. Das widerstrebte ihr, aber es wäre unhöflich gewesen, ihr Wort zu brechen.
In dem großen Raum saßen erstaunlich viele Leute, schwatzten und spielten Karten. Der Fernseher lief, und ein weißhaariger alter Mann, der wie Einstein aussah, klimperte auf dem Klavier. Ungehalten verkündete er, das Instrument müsse endlich wieder gestimmt werden, worauf Mrs Boslicki behauptete, es habe noch nie besser geklungen.
Als Gabriella eintrat, schauten alle überrascht auf. Verlegen erwiderte sie die neugierigen Blicke. Sie hatte nicht erwartet, so viele Personen anzutreffen. Offenbar waren die meisten um die sechzig. Manche Frauen hatten ihr weißes Haar blau getönt. Freundlich lächelten sie das hübsche Mädchen an, mit dem ein Hauch ihrer einstigen Jugend ins Zimmer wehte. Jetzt trug Gabriella das unscheinbare, dunkelblau geblümte Kleid und ihre abgewetzten alten Schuhe. Aber das schimmernde blonde Haar, das ihr schmales Gesicht umrahmte, glich einer Gloriole. Aus den blauen Augen strahlte reine Unschuld. Um den Kummer darin zu erkennen, waren die alten Leute nicht feinfühlig genug. Außerdem wirkte sie so jung, dass niemand auf den Gedanken kam, sie könnte allzu viel vom Leben gesehen oder sogar gelitten haben. Allein schon ihre Anwesenheit stimmte die alten Menschen glücklich.
Mrs Boslicki machte sie mit allen bekannt und erklärte, viele ihrer Hausgäste würden aus Europa stammen. Voller Stolz berichtete Mrs Rosenstein, sie habe das KZ in Auschwitz überlebt. Ob der Pianist, Professor Thomas, mit Vor- oder Nachnamen so hieß, konnte Gabriella nicht feststellen. Aber dann erklärte er mit einer kleinen Verbeugung, sein Vorname würde Theodore lauten und er befinde sich schon seit einigen Jahren im Ruhestand. Interessiert hörte sie zu, als er hinzufügte, er habe in Harvard Literatur unterrichtet und sein Spezialgebiet seien englische Romane aus dem achtzehnten Jahrhundert gewesen.
»Und wo sind Sie zur Schule gegangen?«, fragte er lächelnd. Auf den Gedanken, sie könnte ein College besucht haben, war er wohl nicht gekommen.
»Ich war auf dem Columbia.«
»Dann haben Sie eine sehr gute Ausbildung genossen.« Mrs Boslicki hatte ihren Gästen von
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