Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Aber er hatte seine Verzweiflung nicht mit ihr geteilt und einfach die Flucht ergriffen, am Ende eines Stricks in einem nächtlichen Zimmer.
Obwohl sie ihn immer lieben würde – ein Teil von ihr hasste ihn für diese Feigheit.
Allmählich brach die Dunkelheit herein. Gabriella saß immer noch auf dem Bett, starrte gedankenverloren aus dem Fenster und erinnerte sich an Mutter Gregorias Erklärung. Auch Vater Connors' Mutter habe sich das Leben genommen – eine fatale vererbte Schwäche, an der Gabriella keine Schuld trage. Trotzdem wurde sie von unerträglichen Gewissensbissen geplagt. In der Tiefe ihres Herzens wusste sie, dass sie ihn zum Selbstmord getrieben hatte. Erschöpft streckte sie sich auf dem schmalen Bett aus. Sosehr sie ihn auch liebte – sie hatte ihn getötet. Und das würde ihr der Himmel niemals verzeihen.
16
Nachdem sie das Zimmer in Mrs Boslickis Haus gemietet hatte, bemühte sie sich eine ganze Woche lang um einen Job. Überall bat sie um eine Anstellung – in Kaufhäusern, Cafés, Restaurants, sogar im schäbigen kleinen Schnellimbiss gegenüber der Pension. Aber trotz ihres Columbia-Studiums, ihrer Kenntnisse in der Gartenarbeit, ihrer guten Manieren und ihres schriftstellerischen Talents wollte man sie nirgends einstellen. In den Lokalen wurde sie abgewiesen, weil sie noch nie als Kellnerin gearbeitet hatte, in den Kaufhäusern, weil sie keine entsprechende berufliche Erfahrung besaß.
Auf ihren langen, anstrengenden Fußmärschen hoffte sie, dass sie keinen weiteren Blutverlust erleiden würde, denn sie konnte sich keine ärztliche Behandlung leisten. Ihr Geld schwand ebenso schnell dahin wie ihre Zuversicht. Eines Nachmittags betrat sie ein kleines Restaurant an der Eighty-sixth Street, um Kaffee zu trinken und sich ein Stück Kuchen zu gönnen. Sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Deshalb konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, obwohl sie normalerweise jeden Cent umdrehte.
Zu ihrem Eclair trank sie eine Tasse Kaffee mit köstlicher Schlagsahne. Dabei beobachtete sie, wie der alte deutsche Besitzer des Lokals ein Schild mit der Aufschrift KELLNERIN GESUCHT ins Schaufenster hängte. Inzwischen wusste sie, wie sinnlos es war, sich um einen solchen Job zu bewerben. Trotzdem versuchte sie ihr Glück, als sie die Rechnung beglich. Sie erklärte, sie sei völlig unerfahren, aber auf Arbeit angewiesen, und sie traue sich zu, die Gäste zu bedienen. In ihrer Verzweiflung verriet sie sogar, sie habe in einem Kloster gelebt und den Schwestern manchmal das Dinner serviert. Das schien den Eigentümer des Lokals zu faszinieren. »Waren Sie eine Nonne?« Mit seinem buschigen weißen Schnurrbart und dem glänzenden kahlen Schädel erinnerte er sie an Geppetto, Pinocchios Vater.
»Nein, ich war Postulantin«, erwiderte sie.
Ihre Stimme klang so traurig, dass sein Mitgefühl erwachte. Am liebsten hätte er ihre Hand getätschelt. Zweifellos brauchte sie dringend eine anständige Mahlzeit und jemanden, der auf sie aufpasste. Sie war spindeldürr und viel zu blass. »Wann können Sie anfangen?«, fragte er und beobachtete sie. Ein schönes Mädchen, dachte er, anmutig und würdevoll. Vermutlich steckte viel mehr in ihr, als man auf den ersten Blick sah. Wenn sie auch ein hässliches, fleckiges Kleid trug, so sah sie doch aristokratisch aus und schien einer guten Familie zu entstammen. Aber nun befand sie sich offensichtlich in einer sehr schwierigen Lage.
»Jederzeit«, antwortete Gabriella. »Ich wohne ganz in der Nähe.«
»Okay, fangen Sie morgen an. Sechs Tage pro Woche, von Mittag bis Mitternacht. Montags haben wir geschlossen.« Einer Zwölf-Stunden-Schicht fühlte sie sich gewachsen. Sie war so dankbar für den Job, dass sie zu allem bereit war und sogar den Boden schrubben würde, falls er das verlangen sollte.
Wie sie erfuhr, hieß er Mr Baum und war in München geboren. In seinem Restaurant arbeiteten noch vier andere Frauen, alle in mittleren Jahren. Drei kamen aus Deutschland. Außer Kuchen wurden in diesem gemütlichen Familienbetrieb herzhafte deutsche Gerichte serviert, von Mrs Baum zubereitet.
Freudestrahlend kehrte Gabriella in die Pension zurück.
»Sind Sie Prince Charming begegnet, oder haben Sie endlich einen Job gefunden?«, fragte Mrs Boslicki. Sie hatte sich Sorgen um ihre Mieterin gemacht. Den ganzen Tag auf Arbeitsuche, nachts allein in ihrem Zimmer – für ein so junges Mädchen war das nicht normal.
»Ja, Gott sei Dank!«, jubelte Gabriella. Da sie
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