Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
eingetroffen ist. Vermutlich erwartet sie keine.«
In Mrs Boslickis Pension wussten alle Bewohner übereinander Bescheid. Verwitwet oder im Ruhestand, beobachteten sie sich aufmerksam, weil sie nichts anderes zu tun hatten. Wenn junge Leute einzogen, blieben sie nur so lange, bis sie etwas Geld gespart hatten und sich eine bessere Unterkunft leisten konnten. Vor Gabriellas Ankunft war der jüngste Mieter ein etwa 40-jähriger, frisch geschiedener Vertreter gewesen. An jenem Abend hatte er sich nach einem Kinobesuch etwas später zu den anderen Gästen gesellt und das schöne junge Mädchen, mit dem er bekannt gemacht worden war, hingerissen angestarrt. Doch sie hatte ihn nicht beachtet und ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf Theodore Thomas konzentriert.
»Mit dieser jungen Dame würde ich mich gern öfter unterhalten«, gestand der Professor, und Mrs Rosenstein lächelte ihn an.
»Wärst du fünfzig Jahre jünger, würde ich mir Sorgen machen.« Seit Jahren bewunderte sie ihn, aber die Beziehung blieb rein platonisch.
»Jetzt soll ich mich wohl geschmeichelt fühlen ...« Belustigt musterte er sie über den Rand seiner Brille hinweg. »Aber was ich nicht verstehe – warum arbeitet ein hochintelligentes Mädchen, das ein Studium am Columbia College abgeschlossen hat, als Kellnerin?«
»Heutzutage ist's nicht so einfach, einen Job zu finden«, erwiderte die praktisch veranlagte Pensionswirtin. Die Erklärung befriedigte ihn nicht, und er beschloss, Gabriellas Geheimnis zu ergründen.
Am nächsten Morgen sah er sie wieder, bevor sie das Haus verließ, und sprach sie an. Sie war auf dem Weg zur Arbeit, und sie trug dasselbe hässliche, dunkelblau geblümte Kleid wie am letzten Abend, das an ihr geradezu lächerlich wirkte. Seltsamerweise hob es ihre Schönheit jedoch noch hervor. Sogar in Sack und Asche würde sie zauberhaft aussehen, dachte er. »Wohin gehen Sie denn?«, fragte er, weil er ein großväterliches Interesse an ihr nahm. Sie war unnatürlich blass, und sie erschien ihm müde. Vielleicht schlief sie schlecht.
»Zum Baum's Restaurant«, antwortete sie lächelnd.
»Gut. Da komme ich später hin und setze mich an einen Ihrer Tische.«
»Oh, das wäre sehr nett«, erwiderte sie, gerührt über seine Aufmerksamkeit. Als sie auf die Straße trat, winkte ihr Mrs Boslicki aus dem Wohnzimmerfenster zu. Sie goss gerade ihre Topfpflanzen, und eine der vielen Katzen kauerte auf dem Sims.
In dieser Pension voller alter Leute und Katzen herrschte eine eigenartige Atmosphäre. Aber Gabriella fühlte sich jetzt wohl, und die Gesellschaft ihrer warmherzigen Mitbewohner ersetzte ihr beinahe die Geborgenheit der Klostergemeinde. In einem Apartment, selbst wenn sie sich's leisten könnte, wäre sie viel zu einsam.
Zehn Minuten vor zwölf erreichte sie das Baum's und band eine Schürze um ihr Kleid. Mrs Baum erklärte ihr, was sie zu tun hatte, während Mr Baum den Inhalt der Kasse überprüfte. Erfreut stellte er fest, wie hübsch seine neue Kellnerin aussah. Wenn ihr das dunkelblau geblümte Kleid auch nicht schmeichelte – es war wenigstens sauber. Die sorgsam geputzten alten Schuhe glänzten, und ihr Haar – nach dem Klosterleben immer noch sehr kurz – wurde von einem Stirnband aus dem Gesicht gehalten.
Die Baums waren sich einig. Eine bessere Kellnerin hätten sie nicht finden können. Am Nachmittag wuchs ihre Zufriedenheit. Gabriella begegnete den Gästen überaus freundlich, nahm gewissenhaft die Bestellungen auf und verwechselte die diversen Speisen kein einziges Mal. Außerdem wurden die Leute schnell bedient. Sie war für mehrere Tische zuständig. Doch das machte ihr nichts aus. Auch im St. Matthew's hatte sie vielen Schwestern das Dinner serviert. Um das zu schaffen, musste man die Arbeit gut organisieren, und das fiel ihr nicht schwer.
Als Professor Thomas mit Mrs Rosenstein eintraf, fühlte sich Gabriella in ihrem neuen Wirkungsbereich schon fast heimisch. Die beiden bestellten Apfelstrudel und Pflaumenkuchen, dazu Kaffee mit Schlagsahne. Danach gaben sie ihr ein üppiges Trinkgeld, was sie in Verlegenheit brachte, und sie bedankte sich überschwänglich. Ehe sie das Lokal verließen, sprachen sie mit Mr Baum, lobten den Strudel, und er versprach, das würde er seiner Frau erzählen. Etwas später kehrte Gabriella mit einigen Bestellungen aus der Küche zurück. Der Professor und seine Begleiterin unterhielten sich immer noch mit Mr Baum. Schließlich winkten sie ihr lächelnd zu und machten
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