Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
gekauft?«
»O ja«, antwortete sie und amüsierte sich über seine Hartnäckigkeit.
»Großartig! Ich bin stolz auf Sie. Wenn Sie heute Abend heimkommen, müssen Sie sofort zu schreiben anfangen.«
»Dafür werde ich um Mitternacht zu müde sein«, seufzte Gabriella. Sie litt immer noch an den Nachwirkungen des starken Blutverlusts bei ihrer Fehlgeburt. Doch das sollte niemand erfahren. Der Arzt hatte erklärt, es könnte Monate dauern, bis sie sich vollends erholen würde, und allmählich glaubte sie ihm.
Aber Professor Thomas akzeptierte keine Entschuldigung. »Dann schreiben Sie eben morgens vor der Arbeit. Jeden Tag! Das ist gut für das Herz, die Seele, den Verstand und die Gesundheit. Wenn Sie wirklich begabt sind, können Sie ohne die Schriftstellerei gar nicht leben. Schreiben Sie
täglich!
«, mahnte er in gespielter Strenge. »Und jetzt bringen Sie mir meinen Strudel!«
»Jawohl, Sir!« In diesem liebenswerten alten Mann sah sie den gütigen Großvater, den es in ihrem Leben nie gegeben und von dem sie in ihrer Kindheit nicht einmal geträumt hatte, ausschließlich auf ihre Eltern konzentriert. Jetzt erschien ihr Professor Thomas' Freundschaft wie ein kostbares Geschenk.
Jeden Tag kam er ins Baum's. Und am Montag, ihrem freien Tag, führte er sie zum Essen aus. Dabei erzählte er von seiner Arbeit an der Harvard-Universität, seiner Frau, von Washington, wo er in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts aufgewachsen war. Diese Zeit lag so lange zurück, und Gabriella konnte sich kaum vorstellen, dass er damals schon gelebt hatte. Aber er interessierte sich brennend für die Gegenwart und vertrat moderne Anschauungen.
Gabriella sprach sehr gern mit ihm. Noch lieber hörte sie ihm zu. Meistens diskutierten sie über die Schriftstellerei. Sie hatte eine Kurzgeschichte verfasst, die ihn tief beeindruckte. Während er einige Korrekturen vornahm, erklärte er ihr, wie sie die Handlung wirksamer entwickeln könnte. Dann verkündete er, sie sei ungewöhnlich talentiert. Dieses Kompliment wies sie zurück und behauptete, er wollte nur nett zu ihr sein. Das ärgerte ihn wirklich, und er drohte ihr mit seinem berühmten Zeigefinger, den seine Studenten fürchten gelernt hatten. Aber damit jagte er ihr keinen Schrecken ein. Mit jedem Tag liebte sie ihn inniger. »Wenn ich sage, Sie sind begabt, dann meine ich's ernst, junge Dame. Ich wurde nicht nach Harvard berufen, um Bananen zu züchten. Gewiss, Sie müssen noch hart arbeiten und Ihren Stil perfektionieren. Aber Sie besitzen ein instinktives Gespür für den richtigen Ton, das richtige Tempo. Vom Timing hängt sehr viel ab ... Das verstehen Sie doch, nicht wahr? Oder sind Sie ein Feigling, Gabriella? Haben Sie Angst vor dem Schreiben – vor Ihrem eigenen Talent? Wenn's so ist, müssen Sie dagegen ankämpfen. Nur wenige besitzen eine solche Gottesgabe. Die dürfen Sie nicht vergeuden.«
Mit einem wehmütigen Lächeln erinnerte sie sich an die verhassten Worte. »Einige Menschen haben mir versichert, ich sei stark.« Endlich verriet sie ihm eines ihrer Geheimnisse – das erste von vielen. »Und dann verließen sie mich.«
Verständnisvoll nickte er und hoffte auf weitere Enthüllungen. Als sie schwieg, erwiderte er: »Vielleicht waren sie feige. Viele Schwächlinge beglückwünschen andere Leute zu ihrer Kraft, damit sie selber nicht stark sein müssen. Oder sie versuchen einen auf diese Weise unter Druck zu setzen. ‘Das schaffst du schon, du bist ja so stark ...’ Von den Starken dieser Welt wird eine ganze Menge erwartet. Das ist eine schwere Last.« Wie schmerzlich sie darunter gelitten hatte, sah er ihr an. »Trotzdem sind Sie stark. Und eines Tages werden Sie jemanden finden, der genauso stark ist. Das verdienen Sie.«
»Den habe ich schon gefunden.« Lächelnd streichelte sie seine knotige Hand mit dem ausdrucksvollen und manchmal gefürchteten Zeigefinger, der jetzt friedfertig auf dem Tisch lag.
»Ihr Glück, dass ich nicht fünfzig Jahre jünger bin, Gabbie! Sonst würde ich Ihnen beibringen, wie wunderbar das Leben sein kann. Nun müssen Sie's mir zeigen – oder mich zumindest daran erinnern.« Darüber mussten sie beide lachen.
Jede Woche führte er sie in ein gemütliches Restaurant an der West Side, in der Nähe der Pension oder im Village. Manchmal fuhren sie mit der U-Bahn zu ihrem Ziel. Der Professor bestand trotz seiner kleinen Rente darauf, Gabriella einzuladen. Deshalb suchte sie sich stets das billigste Gericht auf der
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