Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
die sie nach Joes Tod verloren hatte. »Kaufen Sie morgen ein Notizbuch.« Ohne es zu beabsichtigen, traf er schon wieder eine empfindsame Stelle. Das sah er ihr an. Während er mit ihr sprach, gewann er den Eindruck, er würde auf Zehenspitzen über ein Minenfeld tappen. Trotzdem wollte er der Sache auf den Grund gehen. »Haben Sie jemals ein Tagebuch geführt?«, fragte er in unschuldigem Ton und beobachtete erschrocken, wie sie erneut mit den Tränen kämpfte.
»Ja ... Jetzt nicht mehr ...«
Warum sie damit aufgehört hatte, mochte er nicht fragen. Offenbar war das Thema zu schmerzlich. Für einen so jungen Menschen hatte sie zu viel seelische Wunden erlitten. Vermutlich waren manche noch nicht verheilt. »Was schreiben Sie lieber? Gedichte oder Geschichten?«
»In letzter Zeit Geschichten.«
Er genoss dieses Gespräch mit der hübschen jungen Frau, das ihn an längst vergangene Zeiten erinnerte, an Washington, wo er zusammen mit Charlotte studiert hatte. Damals waren sie blutjung gewesen. Eine Woche nach dem Studienabschluss hatten sie geheiratet. Nur dass die Ehe kinderlos geblieben war, hatte sein Glück getrübt. Aber er hatte vierzig Jahre lang die Studenten als seine Kinder betrachtet. Seine Frau hatte Musik unterrichtet, Theorie und Komposition, und manchmal Lieder für ihn geschrieben, mit sehr schönen, fantasievollen Texten. Davon erzählte er Gabriella, und sie hörte lächelnd zu.
»Sicher war sie ein großartiger Mensch.«
»O ja«, stimmte er wehmütig zu. »Nächsten Montag zeige ich Ihnen ein Foto. In ihrer Jugend war sie bildschön, alle unsere Freunde haben mich beneidet. Mit zwanzig haben wir uns verlobt. Wie alt sind Sie, meine Liebe?«
»Zweiundzwanzig.«
»Mein Gott, als ich in diesem Alter war ...« Seufzend strich er mit seinen knotigen Fingern über ihre weiche, glatte Hand. »Sie wissen gar nicht, wie glücklich Sie sein müssten. Verschwenden Sie keine Zeit mit trüben Gedanken an verlorene Orte oder Menschen. Sie werden noch viele liebenswerte Leute kennen lernen. Bemühen Sie sich darum – möglichst schnell.«
Dafür fehlte ihr die Kraft. Beeilen konnte sie sich schon gar nicht. Ganz langsam kroch sie durch ihr neues Leben, und sie wusste es. Aber die Worte des Professors bewegten ihr Herz. »Manchmal ist es schwierig,
nicht
zurückzublicken.« Es gab so schreckliche Dinge, die sie verfolgten.
»Das tun wir alle hin und wieder. Aber man darf nicht zu oft in die Vergangenheit zurückkehren. Denken Sie einfach nur an die guten Zeiten und versuchen Sie die schlechten zu vergessen.«
Es lagen so viele schlechte Zeiten hinter ihr, und die wirklich guten waren so süß und zu kurz gewesen. Die Erinnerung tat erbärmlich weh. Aber sie bewunderte den Professor. Trotz seines hohen Alters betrachtete er das Leben noch voller Enthusiasmus und Interesse. Weder seine Energie noch seinen Humor hatte er verloren. Daran müssten sich die anderen Pensionsgäste ein Beispiel nehmen, dachte Gabriella. Dauernd klagten sie über ihre diversen Krankheiten, die Sozialversicherung, die ihnen zu wenig Geld zahlte, die kürzlich verstorbenen Freunde, den Zustand der New Yorker Gehsteige und die zahllosen Hundehäufchen. Um solche Banalitäten kümmerte sich Professor Thomas nicht. Stattdessen faszinierte ihn Gabriellas Zukunft, und er wollte ihr neuen Lebensmut schenken.
An diesem Abend saßen sie noch lange beisammen. Der Professor beteiligte sich niemals an den Bridgepartien, die Mrs Rosenstein und ihre Freundinnen so genossen, und gestand Gabriella, diesen Zeitvertreib würde er verabscheuen. Aber er spielte Domino mit ihr. Das machte ihr Spaß, obwohl er stets gewann. Während sie schließlich zu ihrem Zimmer hinaufging, dachte sie an einen angenehmen Abend zurück. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, das Leben würde ihr wieder etwas bieten. Stundenlang hatte sie sich mit einem 80-Jährigen unterhalten. Aber sie glaubte, er wäre viel interessanter als jüngere Männer, und sie freute sich auf weitere Gespräche mit ihm. Sie hatte ihm sogar versprochen, am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit ein Notizbuch zu kaufen.
Am Dienstag kam er ohne Mrs Rosenstein, die einen Gynäkologen konsultierte, ins Baum's und fragte Gabriella, ob sie Wort gehalten habe. »Was meinen Sie?«, erkundigte sie sich, nachdem sie seine Bestellung – Kaffee und Apfelstrudel – aufgenommen hatte. An diesem Nachmittag gab es viel zu tun, und sie war ein bisschen zerstreut.
»Haben Sie ein Notizbuch
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