Der lange Weg zur Freiheit
die Tatsache, daß er ein Xhosa-Mädchen aus Umtata geheiratet hatte. Ehen zwischen den Stämmen waren äußerst selten. Vor Mr. Lebentlele hatte ich wohl noch nie jemanden gekannt, der »außerhalb seines Stammes« geheiratet hatte. Doch Mr. Lebentlele und seine Frau zu sehen gehörte zu den vielen Dingen, die meine Engstirnigkeit zu untergraben begannen und die Ketten des Tribalismus lockerten, die mich noch immer gefesselt hielten. In Healdtown fing ich an, mir meiner Identität als Afrikaner, nicht nur als Xhosa oder gar Thembu, bewußt zu werden.
Unser Schlafsaal hatte vierzig Betten, je zwanzig links und rechts vom Mittelgang. Der Boardingmaster des Hauses war der liebenswürdige Reverend S. S. Mokitimi, der später der erste afrikanische Präsident der Methodistischen Kirche von Südafrika wurde. Auch Reverend Mokitimi gehörte zu den Sotho-Sprechenden und wurde von den Studenten sehr bewundert als ein moderner und aufgeklärter Mann, der unsere Klagen verstand.
Reverend Mokitimi beeindruckte uns noch aus einem anderen Grund, und zwar, weil er gegen Dr. Wellington seinen Mann stand. Eines Abends brach im Hauptgebäude des College ein Streit zwischen zwei Präfekten aus. Das war ungewöhnlich, da Präfekten naturgemäß Streit schlichten und nicht entfesseln sollten. Reverend Mokitimi wurde gerufen, um Frieden zu stiften. Auch Dr. Wellington erschien unversehens auf der Bildfläche. Sein Auftauchen war für uns ein erheblicher Schock; es kam uns vor, als sei ein Gott herniedergestiegen, um ein kleines Problem zu lösen.
Dr. Wellington reckte sich empor zu voller Größe und verlangte zu wissen, was da vor sich gehe. Reverend Mokitimi, dessen Kopf nicht einmal bis zu Dr. Wellingtons Schultern reichte, sagte sehr respektvoll: »Dr. Wellington, alles ist unter Kontrolle, und ich werde Ihnen morgen berichten.« Dr. Wellington ließ sich jedoch nicht beirren, sondern sagte einigermaßen gereizt: »Nein, ich will auf der Stelle wissen, was los ist.« Doch Reverend Mokitimi erklärte mit fester Stimme: »Dr. Wellington, ich bin der House Master, und ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen morgen berichten werde, und dabei bleibt’s.« Wir waren alle wie vor den Kopf geschlagen. Noch nie hatten wir erlebt, daß irgendwer, geschweige denn ein Schwarzer, gegen Dr. Wellington aufgestanden wäre, und wir erwarteten eine Explosion. Aber Dr. Wellington sagte nur: »Na gut«, und verschwand. Mir ging auf, daß Dr. Wellington weniger war als ein Gott und Reverend Mokitimi mehr als ein Lakai und daß ein schwarzer Mann sich nicht automatisch einem weißen zu unterwerfen hatte, mochte der ein noch so hohes Amt bekleiden.
Reverend Mokitimi suchte auch am College Reformen durchzusetzen. Wir alle unterstützten seine Bemühungen, die Kost und die Behandlung der Studenten zu verbessern, wozu auch sein Vorschlag gehörte, daß die Studenten für ihre Disziplinierung selbst verantwortlich sein sollten. Allerdings gab es eine Änderung, die manchen von uns Kummer machte, zumal Studenten vom Land. Dies war Reverend Mokitimis Neuerung, Sonntag abends Studenten und Studentinnen gemeinsam im Saal essen zu lassen. Ich war sehr dagegen, aus dem einfachen Grund, weil ich noch immer nicht mit Messer und Gabel umgehen konnte und wegen meiner mangelnden Tischmanieren nicht wieder in Verlegenheit kommen wollte. Doch Reverend Mokitimi organisierte die Mahlzeiten wie geplant, und fast jede Woche verließ ich Sonntag abends den Saal hungrig und deprimiert.
Um so mehr Spaß hatte ich auf dem Sportplatz. Im Vergleich zu Clarkebury war die Qualität des Sports in Healdtown weitaus höher. Im ersten Jahr war ich nicht gut genug, um in einem der Teams mitzuspielen. Im zweiten Jahr jedoch ermutigte mich mein Freund Locke Ndzamela, Healdtowns Meister im Hürdenlauf, es in einer mir bisher unbekannten Sportart zu versuchen: mit dem Langstreckenlaufen. Ich war groß und schlank, was, wie Locke meinte, für einen Langstreckenläufer der ideale Körperbau sei. Mit einigen Tips begann ich zu trainieren. Mir gefiel die Disziplin, die Einsamkeit des Langstreckenlaufens, die mich von dem hektischen Schulleben befreite. Gleichzeitig begann ich mit einer Sportart, für die ich nicht besonders geeignet zu sein schien, und das war das Boxen. Doch trainierte ich nur beiläufig, und erst Jahre später, als ich einige Pfunde zugelegt hatte, begann ich ernsthaft zu boxen.
In meinem zweiten Jahr in Healdtown wurde ich von Reverend Mokitimi und dem Direktor zum
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