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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelson Mandela
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suchen, und hatte er es gefunden, stolperte er darüber.
    Um irgendeinen Punkt zu unterstreichen, hob er sein Assegai in die Luft und traf dabei zufällig über sich den Draht, an dem der Vorhang hing, wobei ein scharfes Geräusch entstand und der Vorhang sich bewegte. Der Blick des Poeten glitt von der Spitze seines Speers zum Draht und wieder zurück, und dann begann Mqhayi, tief in Gedanken, auf der Bühne hin und her zu gehen. Nach etwa einer Minute blieb er stehen, wandte sich zu uns herum und rief aus, daß dieser Vorfall – daß das Assegai den Draht berührt hatte – den Zusammenprall zwischen der Kultur Afrikas und jener Europas symbolisiere. Seine Stimme erhob sich, und er sagte: »Das Assegai steht für das, was in afrikanischer Geschichte ruhmreich und wahr ist, es ist ein Symbol für den Afrikaner als Krieger und den Afrikaner als Künstler. Dieser Metalldraht«, sagte er und wies nach oben, »ist ein Beispiel für westliches Produzieren, gekonnt, doch kalt, klug, doch seelenlos.«
    »Wovon ich spreche«, fuhr er fort, »ist nicht, daß ein Stück Knochen ein Stück Metall berührt hat; auch nicht, daß zwei Kulturen sich überlappen. Ich spreche zu euch von dem brutalen Zusammenprall zwischen dem, was bodenständig und gut ist, und dem, was ausländisch und schlecht ist. Wir können nicht zulassen, daß diese Ausländer, denen unsere Kultur gleichgültig ist, unsere Nation übernehmen. Ich sage voraus, daß eines Tages die Kräfte der afrikanischen Gesellschaft einen bedeutenden Sieg über die Eindringlinge erringen werden. Zu lange haben wir uns den falschen Göttern des Westens gebeugt. Doch wir werden uns erheben und diese ausländischen Vorstellungen abwerfen.«
    Ich konnte meinen Ohren kaum glauben. Seine Kühnheit, in Anwesenheit des Direktors und anderer Weißer über solch heikle Dinge zu sprechen, erschien uns als äußerst erstaunlich. Gleichzeitig jedoch erregte und bewegte es uns; und es begann mein Bild von Männern wie Dr. Wellington zu verändern, den ich gedankenlos als meinen Wohltäter betrachtet hatte.
    Mqhayi begann dann sein bekanntes Gedicht zu rezitieren, in dem er die Sterne am Himmel den verschiedenen Nationen auf dieser Welt zuteilt. Ich hatte es nie zuvor gehört. Auf der Bühne umherschreitend und mit seinem Assegai himmelwärts gestikulierend, sagte er, gleichsam zu den Menschen Europas, den Deutschen, den Franzosen, den Engländern sprechend: »Ich gebe euch die Milchstraße, die größte Sternensammlung, denn ihr seid sonderbare Leute, voller Gier und Neid, die mehr als genug besitzen, sich jedoch über vieles streiten.« Dann teilte er bestimmte Sterne den asiatischen Nationen sowie Nord- und Südamerika zu. Nun sprach er über Afrika, teilte den Kontinent in verschiedene Nationen auf und wies spezifische Sternbilder verschiedenen Stämmen zu. Er war auf der Bühne umhergetanzt, speerschwingend, mit modulierter Stimme sprechend. Jetzt verstummte er plötzlich, sprach dann mit gesenkter Stimme weiter.
    »Komm jetzt, du, o Haus der Xhosa«, sagte er und begann langsam, sich auf ein Knie niederzulassen. »Ich gebe dir den wichtigsten und leuchtendsten Stern, den Morgenstern, denn du bist ein stolzes und kraftvolles Volk. Er ist der Stern zum Zählen der Jahre – der Jahre der Mannhaftigkeit.« Als er dieses letzte Wort sprach, ließ er seinen Kopf auf die Brust fallen. In diesem Augenblick erhoben wir uns alle, klatschend, jubelnd, rufend. Ich wollte mit dem Applaudieren überhaupt nicht aufhören. Ich empfand in diesem Augenblick einen solch intensiven Stolz, nicht als Afrikaner, sondern als Xhosa; ich hatte das Gefühl, zum aus-, erwählten Volk zu gehören.
    Über Mqhayis Vorstellung war ich einerseits erregt, andererseits verwirrt. Er war von einem mehr nationalistischen Thema mit dem Kerngedanken der afrikanischen Einheit übergewechselt zu einem mehr partikularen, gerichtet an das Xhosa-Volk, zu dem er gehörte. Als meine Zeit in Healdtown zu Ende ging, war ich erfüllt von vielen neuen und zuweilen widersprüchlichen Gedanken. Ich begann zu erkennen, daß die Afrikaner aller Stämme viel gemeinsam hatten, doch da stand der große Mqhayi und rühmte die Xhosa über alles; ich sah, daß ein Afrikaner sich gegen einen Weißen behaupten konnte, und doch suchte ich noch eifrig von Weißen Wohltaten zu erlangen, was häufig Unterwürfigkeit erforderte. In gewisser Weise war Mqhayis Themenwechsel ein Spiegelbild meiner eigenen Gedanken, denn ich wechselte hin und her

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