Der lange Weg zur Freiheit
hatten jetzt einen einfachen Holztisch –, wählte Van Rensburg jedesmal diesen Augenblick, um in der Nähe unseres Essens zu urinieren. Ich nehme an, wir sollten noch dankbar sein, daß er nicht direkt in unser Essen urinierte, aber wir legten gegen diese Praxis nichtsdestoweniger Protest ein.
Eine der wenigen Möglichkeiten für Gefangene, sich an ihren Aufsehern zu rächen, ist Humor, und Van Rensburg wurde die Zielscheibe vieler unserer Späße. Unter uns nannten wir ihn »Suitcase« (»Koffer«). Die Essenbehälter der Aufseher wurden als »Suitcases« bezeichnet, und normalerweise bestimmte ein Aufseher einen Gefangenen, gewöhnlich seinen Günstling, dazu, seinen »Suitcase« zu tragen, und entlohnte ihn dann mit einem halben Sandwich. Doch wir lehnten es stets ab, Van Rensburgs »Suitcase« zu tragen – daher sein Spitzname. Für einen Aufseher war es erniedrigend, seine Essenbox selbst zu tragen.
Eines Tages sprach Wilton Mkwayi versehentlich in Van Rensburgs Hörweite von »Suitcase«. »Wer ist Suitcase?« bellte Van Rensburg. Wilton überlegte einen Augenblick und platzte dann heraus: »Das sind Sie!«
»Warum nennen Sie mich Suitcase?« fragte Van Rensburg. Wilton überlegte. »Komm schon, Mann«, sagte Van Rensburg. »Weil Sie Ihren eigenen ›suitcase‹ tragen«, erwiderte Wilton zögernd. »Die allgemeinen Gefangenen tragen die ›suitcases‹ ihrer Aufseher, aber wir tragen Ihren nicht – daher nennen wir Sie Suitcase.«
Van Rensburg dachte einen Augenblick darüber nach, und statt wütend zu werden, verkündete er: »Mein Name ist nicht Suitcase, er lautet Dik Nek.« Für einen Augenblick herrschte Stille, und dann brachen alle in Gelächter aus. In Afrikaans bedeutet Dik Nek wörtlich »Dicker Nacken« und soll jemanden bezeichnen, der dickköpfig und starrsinnig ist. Suitcase war, wie ich annehme, zu dick, um zu erkennen, daß er beleidigt worden war.
Eines Tages nahmen wir im Steinbruch unsere Diskussion über die Frage wieder auf, ob der Tiger in Afrika beheimatet war oder nicht. Bei Van Rensburgs Amtsführung konnten wir nicht mehr so frei sprechen wie früher, aber wir konnten nichtsdestoweniger miteinander sprechen, während wir arbeiteten. Der Hauptsprecher jener, die der Auffassung waren, der Tiger sei nicht in Afrika beheimatet, war Andrew Masondo, ein ANC-Führer vom Kap, der auch Dozent in Fort Hare gewesen war. Masondo konnte ein sprunghafter Mensch sein, und er stellte vehement fest, in Afrika habe man niemals Tiger entdeckt. Die Argumente flogen hin und her, und die Männer hatten ihre Hacken und Schaufeln weggelegt, so hitzig war die Debatte. Das weckte die Aufmerksamkeit der Aufseher, und sie schrien uns zu, wir sollten an die Arbeit zurückkehren. Doch wir waren so vertieft in die Diskussion, daß wir die Aufseher ignorierten. Einige der Aufseher mit niedrigerem Dienstrang befahlen uns, die Arbeit wieder aufzunehmen, doch wir schenkten ihnen keine Beachtung. Schließlich marschierte »Suitcase« herbei und bellte uns in englisch an, in einer Sprache, in der er wahrlich kein Meister war: »You talk to much, but you work too few« (»Ihr redet zuviel, aber ihr arbeitet zu wenig«).
Die Männer nahmen ihre Geräte nicht wieder auf, weil sie sich vor Lachen bogen. Der grammatische Fehler von »Suitcase« wirkte auf jeden höchst komisch. Doch »Suitcase« war überhaupt nicht erfreut. Er schickte sofort nach Major Kellerman, den kommandierenden Offizier.
Kellerman traf einige Minuten später auf dem Schauplatz ein und fand uns in der gleichen Stimmung vor, die uns zuvor erfaßt hatte. Kellerman war relativ neu auf der Insel, und er war entschlossen, den richtigen Ton zu finden. Einer der Aufseher berichtete Kellerman, Andrew Masono und ich hätten nicht gearbeitet und darum müßten wir wegen Drückebergerei und Insubordination belangt werden. Unter Kellermans Aufsicht wurden uns Handschellen angelegt, und wir wurden in Isolierzellen gesperrt.
Von diesem Zeitpunkt an schien »Suitcase« einen besonderen Groll gegen mich zu hegen. Als er uns eines Tages im Steinbruch beaufsichtigte, arbeitete gerade Fikile Bam neben mir. Wir waren für uns allein, an der entlegenen Seite des Steinbruchs. Wir arbeiteten eifrig, doch da wir zu jener Zeit beide Rechtswissenschaften studierten, unterhielten wir uns über das, was wir am Abend zuvor gelesen hatten. Gegen Ende des Tages stand Van Rensburg plötzlich vor uns und erklärte: »Fikile Bam und Nelson Mandela, ich
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