Der lange Weg zur Freiheit
Zelle. Einmal entdeckte jemand eine noch verschlossene Flasche Wein, die im Sand steckte. Man erzählte mir, er habe wie Essig geschmeckt. Jeff Masemola vom PAC war ein hochbegabter Künstler und Bildhauer; die Behörden gestatteten ihm, Treibholzstücke zu sammeln, und daraus schnitzte er Phantasiefiguren, von denen er einige den Aufsehern zum Kauf anbot. Für mich baute er ein Bücherregal, das ich viele Jahre lang benutzte. Den Besuchern erzählten die Behörden, sie hätten es mir zur Verfügung gestellt.
Die Atmosphäre war am Meer entspannter als im Steinbruch. Außerdem genossen wir die Arbeit am Wasser, weil wir dort ausgezeichnet aßen. Jeden Morgen, wenn wir zur Küste gingen, nahmen wir ein großes Faß Süßwasser mit. Später holten wir ein zweites Faß und machten mit dem Wasser eine Art Robben-Island-Meeresfrüchteragout aus gesammelten Muscheln. Wir fingen auch Langusten, die sich in den Felsspalten versteckten. Eine Languste einzufangen ist nicht einfach: Wenn man sie nicht kräftig am Kopf oder Schwanz packt, strampelt sie sich wieder frei.
Mein Lieblingsgericht waren die Meerohren, von uns Perlemoen genannt. Meerohren sind Schnecken, die fest an den Felsen haften, so daß man sie losbrechen muß. Es sind widerstandsfähige Tiere, die sich nur schwer öffnen lassen, und wenn man sie nur ein wenig zu lange kocht, werden sie hart und ungenießbar.
Wir nahmen unseren Fang und häuften ihn in der zweiten Tonne auf. Unser Chefkoch, der den Eintopf zubereitete, war Wilton Mkwayi. Wenn das Essen fertig war, setzten wir uns zusammen mit den Aufsehern an den Strand und machten eine Art Picknick. Im Jahr 1973 lasen wir in einer eingeschmuggelten Zeitung über die Hochzeit von Prinzessin Anne und Mark Phillips; in dem Bericht wurde das Hochzeitsmenü mit seinen seltenen Delikatessen genau beschrieben: Es umfaßte unter anderem Muscheln, Langusten und Meerohren. Wir mußten lachen: Solche Leckereien aßen wir jeden Tag.
Eines Nachmittags – wir saßen gerade am Strand und aßen unseren Eintopf – kam Lieutenant Terblanche, der damalige Leiter der Gefängnisse, zu einem Überraschungsbesuch. Schnell taten wir so, als ob wir arbeiteten, aber er ließ sich nicht täuschen. Schon bald entdeckte er das zweite Faß, in dem der Muscheleintopf brodelte. Der Lieutenant öffnete den Topf und sah hinein. Dann spießte er eine Muschel auf, aß sie und sagte »Smaaklik«, was auf afrikaans »lecker« bedeutet.
Beiden Freiheitskämpfern war Robben Island als »die Universität« bekannt. Diesen Namen trug die Insel nicht wegen der Dinge, die wir aus Büchern lernten oder weil die Häftlinge Englisch, Afrikaans, Kunst, Geographie und Mathematik studierten, und auch nicht, weil viele unserer Leute wie Billy Nair, Ahmed Kathrada, Mike Dingake oder Eddie Daniels mehrere Examina ablegten. Als Universität wurde Robben Island vielmehr wegen der Dinge bezeichnet, die wir voneinander lernten. Wir wurden zu unserer eigenen Fakultät, mit eigenen Professoren, eigenem Lehrplan und eigenen Seminaren. Wir unterschieden zwischen den offiziellen akademischen Studien und dem nicht erlaubten politischen Stoff.
Teilweise erwuchs unsere Universität aus einer Notwendigkeit. Als junge Männer auf die Insel kamen, bemerkten wir, daß sie sehr wenig über die Geschichte des ANC wußten. Walter, vielleicht der größte lebende ANC-Historiker, erzählte ihnen von der Entstehung der Organisation und von ihrer Anfangszeit. Er unterrichtete klug und mit viel Verständnis. Nach und nach wurden diese formlosen Geschichtsstunden zu einem Studienkurs, den das High Organ organisierte und der unter der Bezeichnung Syllabus A bekannt wurde; er umfaßte zwei Jahre mit Vorlesungen über den ANC und den Befreiungskampf. Zu Syllabus A gehörte auch ein Kurs, in dem Kathy »die Geschichte des indischen Freiheitskampfes« unterrichtete. Ein anderer Mithäftling trug eine Geschichte der Farbigen bei, und Mac, der in der Deutschen Demokratischen Republik studiert hatte, lehrte Marxismus.
Die Unterrichtsbedingungen waren nicht ideal. Die Lerngruppen fanden sich im Steinbruch zusammen oder stellten sich im Kreis um den Seminarleiter auf. Die Lehrmethode war die von Sokrates: Um Ideen und Theorien deutlich zu machen, bedienten sich die Lehrer des Frage-und-Antwort-Spiels.
Das Kernstück der Ausbildung auf der Insel war Walters Kurs. Viele junge ANC-Mitglieder, die nach Robben Island kamen, hatten keine Ahnung, daß es die Organisation schon in den
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