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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelson Mandela
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zwanziger und dreißiger Jahren gegeben hatte. Walter führte sie von der Gründung des ANC im Jahr 1912 bis zur Gegenwart. Für viele von diesen jungen Leuten war es der erste politische Unterricht, den sie in ihrem Leben erhielten.
    Als die Kurse im allgemeinen Abschnitt bekannt wurden, bekamen wir auch kritische Fragen von unseren Leuten auf der anderen Seite. Das war der Beginn eines Korrespondenzkurses mit den Häftlingen im allgemeinen Abschnitt. Die Lehrer schmuggelten ihre Vorlesungen zu ihnen hinüber, und von dort kamen Fragen und Anmerkungen zurück.
    Das war für uns ebenso nützlich wie für sie. Diese Leute hatten kaum Schulbildung, aber sie wußten viel von den Unannehmlichkeiten der Welt. Ihre Sorgen waren eher praktischer und nicht theoretischer Natur. Wenn zum Beispiel in einer Vorlesung behauptet wurde, ein Grundsatz des Sozialismus laute »jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen«, kam vielleicht die Frage zurück: »Ja, aber was bedeutet das in der Praxis? Wenn ich Land habe, aber kein Geld, und mein Freund hat Geld, aber kein Land, wer von uns hat dann den größeren Bedarf?« Solche Fragen waren von unmittelbarem Wert und zwangen uns, genau über die eigenen Meinungen nachzudenken.
    Ich leitete mehrere Jahre lang einen Kurs in politischer Ökonomie. Darin versuchte ich, die Entwicklung des Menschen als Wirtschaftswesen von der Frühzeit bis heute nachzuzeichnen; ich skizzierte den Weg von der antiken Stadtgesellschaft über den Feudalismus bis zu Kapitalismus und Sozialismus. Ich bin alles andere als ein Gelehrter und auch eigentlich kein Lehrer, und im allgemeinen stelle ich lieber Fragen, statt einen Vortrag zu halten. Meine Methode war nicht ideologisch begründet, aber sie begünstigte einseitig den Sozialismus, denn in ihm sah ich das am weitesten entwickelte Stadium des wirtschaftlichen Lebens, das die Menschen bis dahin hervorgebracht hatten.
    Neben meinen informellen Studien setzte ich auch meine juristische Arbeit fort. Manchmal überlegte ich, ob ich außen an meiner Zelle ein Firmenschild anbringen sollte, denn ich verbrachte in jeder Woche viele Stunden damit, gerichtliche Eingaben für andere Gefangene auszuarbeiten, obwohl das nach den Gefängnisvorschriften verboten war. Häftlinge aller politischen Lager suchten meine Hilfe.
    Nach den südafrikanischen Gesetzen hat ein Angeklagter kein garantiertes Recht auf juristische Vertretung, und viele tausend mittellose Männer und Frauen kommen jedes Jahr ins Gefängnis, weil ihnen ein Rechtsbeistand fehlt. Nur wenige Afrikaner konnten sich einen Anwalt leisten, und die meisten hatten keine andere Wahl, als jedes Urteil hinzunehmen, das ein Gericht ihnen auferlegte. Von den Leuten im allgemeinen Abschnitt waren viele ohne Rechtsberatung verurteilt worden, und eine ganze Reihe von ihnen wandte sich an mich, um Revision einzulegen. Für die meisten dieser Leute war es das erste Mal, daß sie mit einem Rechtsanwalt zu tun hatten.
     
     
    Ich erhielt beispielsweise einen Kassiber von einem Häftling in F oder G, in dem er mich um Hilfe bat. Dann erkundigte ich mich nach den Einzelheiten des Falls, nach Anklage, Beweisen und Zeugen. Da dieser Nachrichtenaustausch heimlich erfolgen mußte, kam die Information langsam und in kleinen Bruchstücken. Eine Beratung, die in meiner alten Kanzlei von Mandela und Tambo höchstens eine halbe Stunde gedauert hätte, konnte auf der Insel ein Jahr und mehr in Anspruch nehmen.
    Ich riet meinen »Mandanten«, einen Brief an das Büro des Obersten Gerichtshofes zu schreiben und um einen Bericht über den jeweiligen Fall zu bitten. Ich erklärte den Häftlingen, sie sollten auf ihre begrenzten Mittel hinweisen und darum bitten, daß der Bericht gebührenfrei übersandt würde. Manchmal waren die Urkundsbeamten so freundlich und stellten das Material umsonst zur Verfügung.
    Wenn mir die Akte vorlag, konnte ich die Revision vorbereiten. Als Begründung führte ich meist juristische Unregelmäßigkeiten an, beispielsweise Befangenheit, Verfahrensfehler oder Mangel an Beweisen. In meiner eigenen Handschrift entwarf ich einen Brief an den Richter, und dann schickte ich ihn auf die andere Seite. Da ich die Vorschriften verletzte, wenn ich mich mit dem Fall eines anderen beschäftigte, wies ich den Häftling an, den Brief abzuschreiben. Wenn er nicht schreiben konnte – das war bei vielen Häftlingen der Fall –, sagte ich ihm, er solle jemanden suchen, der dazu in der Lage war.
    Es

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