Der lange Weg zur Freiheit
allüberall und einer Atmosphäre, als lägen Reichtum und Wohlhabenheit gleich um die nächste Ecke.
In jener Zeit war Johannesburg eine Kombination aus Grenzstadt und moderner City. Metzger zerteilten ihr Fleisch auf der Straße direkt unter Bürogebäuden. Neben Läden waren Zelte aufgeschlagen, und Frauen hingen ihre Wäsche gleich neben Hochhäusern auf. Die Industrie lief aufgrund der Kriegsanstrengungen auf Hochtouren. 1939 hatte Südafrika, damals noch ein Mitglied des Britischen Commonwealth, Nazi-Deutschland den Krieg erklärt. Das Land stellte Männer und Güter für den Krieg. Die Nachfrage nach Arbeitskräften war groß, und Johannesburg wurde zu einem Magneten für Afrikaner vom Lande, die Arbeit suchten. Zwischen 1941, als ich nach Johannesburg kam, und 1946 verdoppelte sich die Anzahl der Afrikaner in der Stadt. Jeden Morgen hatte man das Gefühl, die Township sei größer als am Tag zuvor. Männer kamen in die Stadt und fanden Jobs in Fabriken und Quartiere in den »Non-European Townships«, den Vierteln für Nichtweiße bzw. Schwarze, in Newclare, Martindale, George Goch, Alexandra, Sophiatown und den Western Native Townships (westliche Eingeborenen-Townships), einem gefängnisartigen Viertel aus einigen Tausend Streichholzschachtelhäusern auf baumlosen Flächen.
Garlick und ich saßen im Wartezimmer des Immobilienhändlers, indes eine hübsche afrikanische Empfangsdame uns bei ihrem Chef im Büro anmeldete. Sie kam zurück, nahm wieder an ihrer Schreibmaschine Platz, und ihre Finger setzten sich wirbelnd in Bewegung, als sie voller Anmut und mit großer Geschwindigkeit einen Brief tippte. Noch nie hatte ich einen afrikanischen Typisten gesehen, geschweige denn eine afrikanische Typistin. In allen öffentlichen wie geschäftlichen Büros, die ich in Umtata und Fort Hare besucht hatte, waren es stets Typisten gewesen, und zwar weiße. Und diese junge Frau beeindruckte mich besonders, weil die weißen Typisten, die ich beobachtet hatte, immer nur mit zwei Fingern ihre Briefe zusammengestottert hatten.
Wenige Minuten später führte sie uns in das innere Büro, wo ich einem Mann vorgestellt wurde, der Ende Zwanzig zu sein schien, mit einem intelligenten und freundlichen Gesicht, heller Hautfarbe, in einen Zweireiher gekleidet. Trotz seiner Jugend wirkte er auf mich wie ein erfahrener Mann von Welt. Er stammte aus der Transkei, sprach englisch mit urbaner Geläufigkeit. Nach seinem bevölkerten Wartezimmer und dem mit Papieren vollgehäuften Schreibtisch zu urteilen, war er ein überaus beschäftigter und erfolgreicher Mann. Dennoch drängte er uns nicht zur Eile, sondern schien aufrichtig an unserer Angelegenheit interessiert. Sein Name war Walter Sisulu.
Sisulu betrieb ein Immobilienbüro, das sich auf Grundbesitz für Afrikaner spezialisiert hatte. In den vierziger Jahren gab es noch einige sogenannte »Freehold«-Grundstücke, die von Afrikanern zu erwerben waren. Es handelte sich im allgemeinen um Kleingrundstücke in Gegenden wie Alexandra und Sophiatown. In einigen dieser Gegenden besaßen Afrikaner seit mehreren Generationen eigene Häuser. Die übrigen afrikanischen Gebiete waren städtische Townships mit Streichholzschachtelhäusern, für welche die Bewohner dem Johannesburg City Council, dem Stadtrat, Miete zahlten.
Sisulus Name wurde damals in Johannesburg prominent, sowohl wegen seiner geschäftlichen Erfolge als auch wegen seiner Rolle als lokaler Führer. Er war bereits eine Größe in der Gemeinde. Aufmerksam hörte er zu, als ich über meine Schwierigkeiten in Fort Hare sprach, über meinen Ehrgeiz, Rechtsanwalt zu werden, und daß ich mich an der University of South Africa einschreiben lassen wollte, um meinen akademischen Grad über Fernlehrkurse zu erlangen. Ich überging die Umstände meiner Ankunft in Johannesburg. Als ich fertig war, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und überlegte. Dann musterte er mich wieder und sagte, es gebe da einen weißen Rechtsanwalt namens Lazar Sidelsky, mit dem er zusammenarbeite und den er für einen anständigen und fortschrittlichen Mann halte. Sidelsky interessiere sich für die Erziehung und Bildung von Afrikanern. Er werde Sidelsky fragen, ob er mich nicht als »Ausbildungsclerk« (Voraussetzung für Jurastudium) einstellen wolle.
Damals glaubte ich, daß sowohl Versiertheit im Englischen als auch geschäftlicher Erfolg die unmittelbare Folge eines hohen akademischen Status waren, und ich nahm als selbstverständlich an, daß Sisulu
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