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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelson Mandela
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kümmerten sich Witkin, Sidelsky und Eidelman nebenbei noch um Immobilientransaktionen afrikanischer Klienten. Walter vermittelte der Kanzlei Klienten, die eine Hypothek brauchten. Die Kanzlei erledigte die Darlehensanträge und erhielt dafür eine Gebühr, die sie mit dem Immobilienagenten teilte. Die Anwaltskanzlei strich allerdings den Löwenanteil der Summe ein und ließ für den afrikanischen Immobilienagenten kaum mehr als Almosen übrig. Schwarze erhielten die Krumen vom Tisch, und es blieb ihnen keine Wahl, als sie zu akzeptieren.
    Dennoch war diese Kanzlei weitaus liberaler als die meisten. Es war eine jüdische Kanzlei, und nach meiner Erfahrung sind Juden großzügiger in Fragen von Rasse und Politik als die meisten Weißen, vielleicht weil sie historisch selbst Opfer von Vorurteilen gewesen sind. Die Tatsache, daß Lazar Sidelsky, einer der Namenspartner der Kanzlei, einen jungen Afrikaner als Ausbildungsclerk akzeptierte – was damals nahezu undenkbar war –, bewies eben jenen Liberalismus.
    Mr. Sidelsky, vor dem ich große Achtung gewann und der mich mit großer Freundlichkeit behandelte, war selbst Graduierter der University of Witwatersrand; er war ein Mann von etwa Mitte Dreißig, als ich in die Kanzlei eintrat. Er setzte sich für die Bildung von Afrikanern ein, spendete Geld, aber auch Zeit für den Besuch afrikanischer Schulen. Er war ein schlanker, eleganter Mann, der aufrichtig an meinem Wohlergehen und meiner Zukunft interessiert war und Wert und Wichtigkeit der Bildung predigte – für mich speziell und für Afrikaner im allgemeinen. Nur Massenerziehung, pflegte er zu sagen, würde meinen Leuten Freiheit geben, was er damit begründete, daß ein Mensch mit Bildung sich nicht unterdrücken lasse, weil er für sich selbst denken könne. Er sagte immer wieder zu mir, das Beste, was ich für meine Leute tun könne, sei, ein erfolgreicher Anwalt zu werden und somit ein Vorbild dafür, was sich durch harte Arbeit und hartes Studium erreichen lasse.
    An meinem ersten Tag in der Kanzlei lernte ich die meisten Mitarbeiter kennen, darunter auch den einzigen anderen afrikanischen Angestellten, Gaur Radebe, mit dem ich mir einen Büroraum teilte. Gaur war Clerk, Dolmetscher und Bote, ungefähr zehn Jahre älter als ich. Er war ein kleinwüchsiger, untersetzter, muskulöser Mann, der fließend Englisch, Sotho und Zulu sprach. Er hatte kraftvolle Ansichten und noch kraftvollere Argumente, um ihnen Nachdruck zu verleihen. Im schwarzen Johannesburg war er eine wohlbekannte Gestalt.
    An jenem ersten Morgen nahm mich eine der Sekretärinnen, eine sympathische junge Weiße, Miß Lieberman, beiseite und sagte: »Nelson, wir haben hier in der Kanzlei keine Farbschranke.« Dann erklärte sie, später am Vormittag werde im vorderen Salon der Teemann erscheinen, mit Tee auf einem Tablett und einer Anzahl von Tassen. »Wir haben für Sie und Gaur zwei neue Tassen besorgt«, sagte sie. »Die Sekretärinnen bringen den Prinzipals Tassen mit Tee, doch Sie und Gaur müssen sich Ihren Tee holen, genau wie wir. Ich werde Sie rufen, wenn der Tee kommt, und dann können Sie und Gaur Ihren Tee in den neuen Tassen abholen.« Sie fügte hinzu, ich solle das auch Gaur sagen. Für ihre Hinweise war ich dankbar, gleichzeitig wußte ich jedoch, daß die »beiden neuen Tassen«, die sie so nachdrücklich erwähnte, der Beweis für eben jene »Farbschranke« waren, von der sie behauptete, daß sie nicht existiere. Die Sekretärinnen konnten sich den Tee mit zwei Afrikanern teilen, aber nicht die Tassen.
    Als ich Gaur berichtete, was Miß Lieberman mir gesagt hatte, bemerkte ich, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, so wie man bei einem Kind erkennen kann, daß ihm plötzlich ein boshafter Gedanke kommt. Er erwiderte nur: »Nelson, kümmere dich zur Teezeit um nichts. Mach es einfach wie ich.« Um elf Uhr kam Miß Lieberman in unser Zimmer, um zu melden, daß der Tee eingetroffen sei. Gaur ging vor den Sekretärinnen und einigen anderen Mitarbeitern der Kanzlei zum Teetablett, ignorierte ostentativ die beiden neuen Tassen, wählte statt dessen eine der alten aus und tat großzügig Zucker, Milch und dann Tee hinein. Er rührte langsam um, stand dann herum und trank auf höchst selbstzufriedene Weise. Die Sekretärinnen starrten Gaur an, und dann nickte Gaur mir zu, als wollte er sagen: »Du bist dran, Nelson.«
    Für einen Augenblick war ich in einem Zwiespalt. Ich wollte weder die Sekretärinnen noch meinen neuen Kollegen

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