Der langsame Walzer der Schildkroeten
einfach so losgerannt.«
Sie hatte einen Regenmantel über ihr Nachthemd gezogen und war barfuß.
Sie rieb sich die Arme und wich Joséphines Blick aus.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Wir sind uns ja noch nie begegnet …«
»Oh, das liegt an meinem Mann, er mag es nicht, wenn ich …«
Sie verstummte, als könnte sie jemand hören.
»Er wäre außer sich, wenn er mich so im Aufzug sehen würde!«
»Ich sehe auch nicht besser aus als Sie«, platzte Joséphine heraus. »Ich bin hinter Zoé hergerannt. Sie ist gegangen, ohne mir einen Kuss zu geben, und ich mag es nicht, wenn mein Tag ohne einen Kuss meiner Tochter beginnt …«
»Ich auch nicht!«, seufzte Madame Lefloc-Pignel. »Die Küsse von Kindern sind so sanft.«
Sie wirkte selbst noch wie ein Kind. Schmächtig, blass, zwei große, verängstigte braune Augen. Sie senkte den Blick und zog zitternd ihren Regenmantel fester um sich. Der Aufzug hielt, und sie stieg aus. Dabei verabschiedete sie sich mehrmals und hielt die schwere Aufzugtür fest. Joséphine fragte sich, ob sie ihr etwas anvertrauen wollte. Blonde Strähnen hatten sich aus ihren zwei dünnen Zöpfen gelöst. Unruhig schaute sie immer wieder nach rechts und links.
»Wollen Sie nicht mit hochkommen und einen Kaffee mit mir trinken?«, fragte Joséphine.
»O nein! Das wäre nicht …«
»Wir könnten uns ein wenig kennenlernen, über die Kinder reden … Wir wohnen im selben Haus und kennen uns überhaupt nicht.«
Madame Lefloc-Pignel rieb sich wieder die Arme.
»Ich habe eine Liste mit Dingen, die ich erledigen muss. Ich darf nicht in Verzug geraten …«
Es klang, als wäre sie außer sich vor Angst bei der Vorstellung, einen Punkt auf ihrer Liste zu vergessen.
»Sie sind sehr freundlich. Vielleicht ein anderes Mal …«
Immer noch blockierte sie die Aufzugtür mit ihrem mageren Arm.
»Wenn Sie meinem Mann begegnen, sagen Sie ihm nicht, dass Sie mich so gesehen haben … im Nachthemd … Er ist so … Er legt großen Wert auf Etikette!«
Sie lachte verlegen, rieb sich mit dem Ellbogen die Nase und verbarg das Gesicht im Ärmel ihres Regenmantels.
»Gaétan ist ein netter Junge. Er klingelt manchmal bei uns …«, versuchte Joséphine es noch einmal.
Madame Lefloc-Pignel starrte sie entsetzt an.
»Das wussten Sie nicht?«
»Manchmal lege ich mich nachmittags ein wenig hin …«
»Ihre beiden anderen Kinder kenne ich nicht gut, Domitille und …«
Madame Lefloc-Pignel zog die Augenbrauen hoch und zögerte, als müsste auch sie sich den Namen ihres ältesten Sohnes erst in Erinnerung rufen.
»Aber Gaétan ist ein netter Junge …«, wiederholte Joséphine.
Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Sie wünschte, sie würde die Aufzugtür loslassen. Es war kalt, und das Sweatshirt mit dem Kampf den Kohlehydraten -Aufdruck war nicht sehr dick.
Schließlich ließ Madame Lefloc-Pignel fast schon widerstrebend los, und die Tür schloss sich. Joséphine winkte ihr noch einmal freundlich zu. Sie nimmt sicher Beruhigungsmittel. Sie zittert wie Espenlaub und zuckt beim geringsten Geräusch zusammen. Sie ist bestimmt keine sehr angenehme Partnerin oder eine sonderlich aufmerksame Mutter. Sie hatte sie noch nie in der Schule oder im Supermarkt des Viertels gesehen. Wo macht sie ihre Einkäufe? Dann besann sie sich. Vielleicht macht sie es genau wie ich, ich fahre schließlich auch immer noch zurück zum Intermarché in Courbevoie. Eine Gewohnheit, die ich aus meinem alten Leben beibehalten habe. Sie hatte immer noch ihre Treuekarte. Antoine hatte auch eine. Zwei Karten für ein Kundenkonto. Noch eine Verbindung zu ihm.
Sie ging zurück in ihre Wohnung und beschloss, joggen zu gehen. Sie kam an Zoés Zimmer vorbei und schob die Tür auf. Sie ging nicht hinein. Versprochen ist versprochen. Wieder war ein Brief angekommen. In Antoines Handschrift. Sie hatte ihn Zoé gegeben, und diese hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, um ihn zu lesen. Joséphine hatte gehört, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und verstanden, dass sie nicht gestört werden wollte. Sie hatte keine Fragen gestellt.
Zoé verbrachte mittlerweile die meiste Zeit in ihrem Zimmer bei ihrem Flat Daddy. Joséphine drückte ein Ohr an die Tür und hörte, wie Zoé ihn fragte, was er von einer Grammatikregel, einem Matheproblem, einem Rock oder einer Hose hielt. Sie stellte die Fragen und gab die Antworten. Sagte »Ja sicher, bin ich blöd, du hast recht!«, und lachte. Ein gezwungenes Lachen, das
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