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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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den Hintern bringt einen immer nach vorn. Und vertreibt die düsteren Gedanken. Er hatte nicht länger das Gefühl, sein Leben wie eine Last mit sich herumzuschleppen, stattdessen kam es ihm vor, als hätte er es auf dem Bürgersteig abgestellt und betrachtete es mit distanziertem Blick. Wie etwas, dem er eine Richtung geben würde, Norden, Süden, Osten, Westen. Er brauchte sich nur noch eine auszusuchen. Leichtigkeit durchströmte ihn, hob ihn in die Lüfte, und er spürte, wie er hinter Hortense herflog, um sie zu küssen. »Hortense, Hortense!«, rief er, aber sie war schon verschwunden.
    Er drehte sich wieder zur Straße um, zu den Passanten, den Ampeln, den Autos, den Motorrädern und den Fahrrädern, und ihn überkam der Wunsch, sie an seinem Gefühl teilhaben zu lassen.
    »What a glorious day!« , rief er, als er einen roten Doppeldeckerbus entdeckte, der sich majestätisch vor dem blauen Himmel abzeichnete. Bald würde er durch einen einstöckigen Bus ersetzt werden, aber das war nicht schlimm, das Leben würde weitergehen, denn das Leben war schön, er würde es von nun an selbst in die Hand nehmen und den ganzen dunklen Ballast abwerfen, den er manchmal mit sich herumtrug.
    In der ersten Stunde hatten sie Kunstgeschichte.
    Der Dozent, ein grauhaariger Mann mit fahlem Teint, sprach langsam und schleppend und hatte einen kleinen runden Bauch, der sich unter seiner weinroten Weste wölbte. Sein Hemdkragen war ein rechter Geizkragen. Man müsste ihm mehr Weite geben, und nicht nur ihm, auch den Ärmeln und dem Schößchen, bemerkte Hortense und warf einige Skizzen auf ihr weißes Blatt. Ihm den offenen Seewind ins Gesicht blasen. Er erklärte, wie Kunst und Politik manchmal Hand in Hand gingen, manchmal jedoch auch in vollkommen gegensätzliche Richtungen strebten. Er fragte die schläfrige Klasse, wann die ersten politischen Parteien entstanden seien.
    »Weltweit?«, fragte Hortense und hob den Kopf von ihrem Heft.
    »Ja, Mademoiselle Cortès. Aber genauer gesagt, in England, denn die ersten Parteien sind in England entstanden. Trotz Ihrer Französischen Revolution haben Sie die Demokratie nicht für sich gepachtet.«
    Hortense hatte keine Ahnung.
    »In England«, sprach er weiter und zupfte dabei an den Spitzen seiner Weste. »Und zwar im siebzehnten Jahrhundert. Zunächst gab es die sogenannten ›agitators‹, die ihre Reden vor den Soldaten hielten. 1679 kam es dann zu einem Streit zwischen den Mitgliedern des Parlaments auf der einen Seite und den Großen des Reichs auf der anderen. Die Auseinandersetzungen wurden immer heftiger, sie beleidigten sich gegenseitig als ›tories‹, Straßenräuber, und ›whigs‹, Viehdiebe. Diese Schmähungen blieben haften, und so entstanden die Namen der beiden großen politischen Strömungen in England. 1830 schließlich wurde die erste politische Partei gegründet, es handelte sich um die konservative Partei, die erste Partei Europas und, so kann man sagen, der gesamten Welt …«
    Zufrieden hielt er inne. Seine Hand tätschelte sein rundes Bäuchlein. Hortense nahm einen Bleistift und machte sich daran, ihn glanzvoller einzukleiden. Ein derart gebildeter Mann war es sich schuldig, elegant aufzutreten. Sie zeichnete ein Männerhemd: den Kragen, die Ärmel, die Knöpfe, den Schnitt, die längere Ausführung, mit symmetrischen und asymmetrischen Vorderteilen.
    Gary kam ihr in den Sinn, und sie skizzierte einen jugendlichen Oberkörper in einem Mantelkragen. Gary als Mitglied der königlichen Familie. Gary von Paparazzi verfolgt. Sie zeichnete Ganovenhemden unter engen Blousonjacken und fügte lächelnd eine Sonnenbrille hinzu. Gary im Buckingham Palace, bei einem Empfang, vor der Königin? Sie skizzierte ein romantisches Smokinghemd mit zahlreichen Biesen. Nicht zu breit, die Biesen. Die Spitze ihres Bleistifts brach ab und schmierte einen Fleck auf das weiße Blatt. »Scheibenkleister!«, entfuhr es ihr. Du bist genau wie deine Mutter, du sagst auch nie »Scheiße«. Sie hatte ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Ihre Liebe wog tonnenschwer. Der Wunsch, dem geliebten Kind alles zu geben, vergiftet die Liebe. Drängt das Kind in eine erzwungene, abgeschmackte Dankbarkeit. Das war nicht die Schuld ihrer Mutter, aber es belastete sie sehr.
    Gefühle waren ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Jedes Mal, wenn sie kurz davor war, ihnen nachzugeben, machte sie dicht. Klick, klack, schon waren die Luken geschlossen. So blieb sie sich selbst immer eine gute

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