Der langsame Walzer der Schildkroeten
Ratgeberin. Sie blieb ihre eigene beste Freundin. Denn das ist das Problem mit den Gefühlen, sie torpedieren einen. Lassen einen in tausend Stücke zerplatzen. Man verliebt sich, und ruck, zuck findet man sich zu dick, zu dünn, seinen Busen zu klein, zu groß, seine Beine zu lang, zu kurz, die Nase zu groß, den Mund zu schmal, die Zähne gelb, die Haare fettig, das Lachen albern, sich selbst dumm, aufdringlich, ungebildet, geschwätzig, stumm. Man ist nicht länger seine eigene beste Freundin.
Als sie vom Einkaufen mit ihrer Mutter zurückgekommen war und sie gerade ein Taxi heranwinkten, hatten sie am Straßenrand eine Schnecke bemerkt, die sich in ihr Haus verkrochen hatte. Ihre Mutter hatte sich gebückt, hatte sie aufgehoben und über die Straße getragen. Sofort hatte sich Hortense hinter einer Mauer aus stummer Missbilligung verschanzt.
»Was ist denn los?«, hatte Joséphine gefragt, der nicht die kleinste Gefühlsregung im Gesicht ihrer Tochter entging. »Bist du nicht zufrieden? Ich dachte, ich mache dir mit diesem Shopping-Tag eine Freude …«
Genervt hatte Hortense den Kopf geschüttelt.
»Musst du dich um alle Schnecken kümmern, die dir über den Weg kriechen?«
»Aber sie wäre auf die Straße gekrochen und überfahren worden!«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht hat sie gerade drei Wochen gebraucht, um die Fahrbahn zu überqueren, und hat sich erleichtert ein bisschen ausgeruht, ehe sie zu ihrem Freund weiterkriecht, und du bringst sie einfach wieder zurück zu ihrem Ausgangspunkt!«
Bestürzt hatte ihre Mutter sie angestarrt. Ihre panischen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie war losgerannt, um die Schnecke zurückzuholen, und wäre dabei selbst fast überfahren worden. Hortense hatte sie gerade noch am Ärmel zurückreißen und in ein Taxi schubsen können. Das war das Problem mit ihrer Mutter. Die Gefühle vernebelten ihr den Blick. Genau wie ihrem Vater. Er hatte alle Voraussetzungen mitgebracht, um erfolgreich zu sein, aber er war regelrecht zerflossen, sobald er sich nur dem geringsten Widerstand, einer Spur von Feindseligkeit gegenübersah. Er hatte in Strömen geschwitzt. Als kleines Mädchen hatte sie bei den gemeinsamen Abendessen bei Iris oder Henriette Qualen ausgestanden, wenn sie die ersten Anzeichen der Angst bemerkte. Sie hatte unter dem Tisch die Hände gefaltet, damit die Fluten ausbleiben mochten, und dabei regungslos gelächelt. Den Blick nach innen gekehrt, um nichts zu sehen.
Und dann hatte sie gelernt. Ihren Schweiß zu unterdrücken, ihre Tränen zu unterdrücken, das Stück Schokolade zu verbannen, das sie ein Gramm zunehmen lassen würde, der Talgdrüse Einhalt zu gebieten, die zu einem Pickel heranwachsen würde, das Bonbon wegzulegen, das zu Karies führen würde. Sie stieß alles von sich, was Gefühle auslösen könnte. Das Mädchen, das ihre beste Freundin werden wollte, den Jungen, der sie nach Hause begleitete und sie zu küssen versuchte. Sie wollte kein Risiko eingehen. Jedes Mal, wenn sie Gefahr lief, sich gehen zu lassen, dachte sie an die triefende Stirn ihres Vaters, und das Gefühl war weg.
Also sollte ihr bitte niemand sagen, sie sei wie ihre Mutter! Damit stellte man die Anstrengungen eines ganzen Lebens infrage.
Ihre Selbstbeherrschung entsprang nicht allein ihrem Widerwillen gegen Gefühle, es ging ihr auch um die Ehre. Die verlorene Ehre ihres Vaters. Ehre war etwas, woran sie glauben wollte. Und sie war davon überzeugt, dass Ehre nicht das Geringste mit Gefühlen zu tun hatte. Als sie in der Schule den Cid gelesen hatten, hatte sie sich rückhaltlos in die Qualen von Rodrigo und Chimène gestürzt. Er liebt sie, sie liebt ihn, das sind Gefühle, das macht sie zu schlotternden Zauderern. Aber er hat ihren Vater getötet, sie muss sich rächen, ihrer beider Ehre steht auf dem Spiel, und sie richten sich wieder auf. Daran ließ Corneille keinen Zweifel: Ehre lässt den Menschen wachsen. Gefühle drücken ihn nieder. Racine hingegen setzte auf Gefühle, den konnte sie nicht ausstehen. Bérénice ging ihr auf die Nerven.
Ehre war ein seltenes Gut geworden. Mitleid war an seine Stelle getreten. Duelle waren verboten. Sie hätte sich zu gern duelliert. Diejenigen herausgefordert, die es ihr gegenüber an Respekt fehlen ließen. Jeden mit dem Schwert durchbohrt, der sie beleidigte. Mit wem in dieser schlafenden Klasse würde ich gerne die Klingen kreuzen?, fragte sie sich und ließ den Blick über die Anwesenden gleiten.
Zu ihrer
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