Der langsame Walzer der Schildkroeten
Joséphine verunsicherte.
Abends saß Zoé schweigend am Esstisch und wich ihrem Blick und ihren Fragen aus.
Was kann ich denn nur tun?, fragte sich Joséphine, als sie an diesem Morgen um den See rannte. Sie hatte mit Zoés Lehrern gesprochen, aber nein, hatte man ihr geantwortet, es ist alles in Ordnung, sie nimmt am Unterricht teil, spielt während der Pausen im Hof, erledigt ihre Aufgaben sorgfältig und lernt für die Klassenarbeiten. Sie vermisste Madame Berthier. Sie hätte gerne mit ihr über ihre Sorgen gesprochen.
Die Ermittlungen zu ihrem Tod machten keine Fortschritte. Joséphine war noch einmal aufs Polizeirevier gegangen, um mit Capitaine Gallois zu sprechen. Freundlich wie ein Behördenschreiben, diese Frau.
»Wir haben nur sehr wenige Hinweise. Ich würde lügen, wenn ich etwas anderes behauptete …«
Die Polizistin hatte eine sehr unangenehme Art, mit ihr zu reden.
Sie beendete ihre erste Runde um den See und setzte zur zweiten an. Sie bemerkte den Unbekannten, der ihr, die Hände in den Taschen, die Mütze bis zu den Augenbrauen heruntergezogen, entgegenkam. Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzusehen.
Wann genau hatte Zoés Verwandlung eingesetzt? Heiligabend. Als die Geschenke verteilt wurden, war sie noch fröhlich gewesen und hatte Mätzchen gemacht. Der Auftritt des Standbilds ihres Vaters hatte alles ausgelöst. Von diesem Moment an, von dem Moment an, als Antoine in unserer Mitte saß, hat sich Zoé zurückgezogen. Als stellte sie sich auf die Seite ihres Vaters, gegen mich … Aber warum? So ein Mist!, schimpfte Joséphine, immerhin ist er derjenige, der mit seiner Maniküre durchgebrannt ist! Sie musste Mylène anrufen. Sie hatte bis jetzt noch keine Zeit dazu gehabt. Keine Zeit oder keine Lust? Sie zögerte, sich Mylène anzuvertrauen. Auch wenn sie nicht wusste, wieso. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die ihrer Rivalin auf die Schenkel klopfen und ihre beste Freundin werden. Sie blieb stehen. Sie war den kleinen Anstieg vor der Anlegestelle der Boote zur Insel zu schnell hinaufgelaufen.
Sie streckte sich, riss die Arme hoch, ließ den Kopf tief herunter hängen, dehnte ihre Arme, ihre Beine. Er fehlte ihr. Er fehlte ihr. Er kam ständig wieder. Schlich sich in ihren Kopf, nahm den ganzen Platz ein. Komm zurück, flehte sie stumm, komm zurück, wir werden uns heimlich treffen, werden uns kurze glückliche Momente stehlen, während wir abwarten, dass die Zeit vergeht, dass Iris wieder gesund wird, dass die Mädchen erwachsen werden. Die Mädchen! Vielleicht wusste Zoé Bescheid. Kinder wissen Dinge über uns, von denen wir selbst nichts ahnen. Man kann sie nicht belügen. Vielleicht weiß Zoé, dass ich Philippe geküsst habe? Sie spürt den Geschmack seiner Küsse, wenn ich mich zu ihr hinunterbeuge.
Sie richtete sich wieder auf. Massierte ihre Beine, ihre Waden. Streckte sich noch einmal. Ich muss mit ihr sprechen. Sie zum Reden bringen.
Sie lief wieder los. Dachte nach. Tief in Gedanken versunken, hörte sie plötzlich jemanden ihren Namen rufen.
»Joséphine! Joséphine!«
Sie drehte sich um. Luca kam auf sie zu. Mit ausgebreiteten Armen und einem strahlenden Lächeln.
»Luca!«, rief sie.
»Ich wusste, dass ich Sie hier finden würde. Ich kenne Ihre Gewohnheiten!«
Sie musterte ihn, als wollte sie sich vergewissern, dass er es auch tatsächlich war.
»Wie geht es Ihnen, Joséphine?«
»Gut. Und was ist mit Ihnen, geht es Ihnen wieder besser?«
Er sah sie lächelnd an.
»Joséphine! Wir müssen reden. Wir können es nicht bei diesem Missverständnis belassen.«
»Luca …«
»Es tut mir leid wegen neulich. Ich habe Sie offensichtlich verletzt, aber ich wollte Ihnen nicht wehtun oder mich über Sie lustig machen.«
Sie schüttelte den Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und strich die Haare zurück, die ihr im Gesicht klebten.
»Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«
Sie errötete und lehnte seinen Arm ab.
»Nicht, ich klebe, ich bin gelaufen, und …«
Joséphine konnte es nicht fassen: Luca, der gleichgültigste Mann der Welt, lief ihr hinterher! Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie war es nicht gewöhnt, in Männern Leidenschaft zu wecken. Wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits war sie ihm dankbar. Sie fühlte sich bedeutend, verführerisch. Aber gleichzeitig sah sie ihn an und dachte bei sich, dass seine Schönheit der eines Stücks toten Holzes glich. Sie gingen in Richtung des Kiosks am Seeufer. Luca bestellte zwei
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