Der langsame Walzer der Schildkroeten
das des anderen aufnimmt, ein Stückchen Haut, das unter dem Mantelärmel gestreichelt wird. Kümmerliche Zeichen einer verflogenen Leidenschaft.
»Und du arbeitest jetzt wieder an deiner Habilitation? Welches Thema hast du für deine Arbeit gewählt? Ich will alles wissen … Ich meine, ich rede und rede, und du erzählst überhaupt nichts von dir! Das wird sich ändern, Jo, von jetzt an wird sich alles ändern. Denn ich habe mir einiges vorgenommen, weißt du, unter anderem auch, mich wirklich für andere zu interessieren, nicht mehr nur Nabelschau zu betreiben … Sag mal, findest du eigentlich, dass ich älter aussehe?«
Joséphine hörte sie nicht mehr. Sie sah ihrer Liebe nach, die zwischen barbusigen Statuen und Fächerpalmen entschwand. Ihr Lächeln zeugte von der Niederlage. Sie würde nichts sagen. Sie würde Philippe nicht mehr wiedersehen.
Sie würde nie wieder den Armagnac-Kuss schmecken.
Und hatte sie das nicht auch den Sternen versprochen?
Joséphine beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie ging die Rue Saint-Honoré hinauf, seufzte vor Glück angesichts der vollkommenen Schönheit der Place Vendôme, folgte der Rue de Rivoli mit ihren Arkaden, schlenderte am Seineufer entlang und wandte dem Pont Alexandre III den Rücken zu, um zum Trocadéro zu gelangen.
Sie musste sich erst wieder sammeln. In Iris’ Gegenwart war ihr das Atmen schwergefallen. Als hätte ihre Schwester die ganze Luft in dem Restaurant für sich beansprucht. Wenn sie mit Iris im selben Raum war, erstickte sie. Genug jetzt!, schimpfte sie stumm und trat gegen einen Pflasterstein. Ich vergleiche mich mit ihr und gehe dabei unter. Ich wage mich auf ihr Terrain, das der Schönheit, der Unbefangenheit, des neuesten Pariser Klatsches, der eleganten Mäntel, der Extensions, der Auslöschung aller Falten, und kann dort nicht kämpfen. Aber wenn ich sie auf meine Seite herüberziehen würde, wenn ich ihr von Vertrautheit erzählen würde, vom Unsichtbaren, von dem Blick, mit dem man den anderen berührt, von der Liebe, die man verschenkt, den Emotionen, die einen überwältigen, von der Nichtigkeit des äußeren Scheins, von der Kraft, die es kostet, herauszufinden, wer man wirklich ist, vielleicht schaffte ich es dann, mich ein wenig aufzurichten, statt zusammenzuschrumpeln wie eine alte Socke.
Sie schaute zum Himmel auf, erkannte im Schwung einer Wolke ein Auge und bemerkte eine gewisse Ähnlichkeit zu Philippes Blick. Du hast mich ja schnell vergessen, sprach sie zu der Wolke, die sich auflöste, wieder neu formte und dabei das Auge verschwinden ließ. »Die Liebe ist ein Tropfen Honig, den man von dornigen Ranken pflückt«, sangen die Troubadoure an Eleonores Hof. Und mir bleiben jetzt nur die dornigen Ranken. Ich bin selbst schuld daran: Ich habe ihn weggeschickt, und er ist brav zu Iris zurückgekehrt. Und dafür hat er sich ja nicht gerade viel Zeit gelassen. Zorn kochte in ihr hoch. Sie fasste neue Hoffnung: Sie würde sich wehren!
Als sie den Park durchquerte, zog sie instinktiv die Schultern ein wenig zusammen. Es war stärker als sie. Nur ein kleines Stück von hier hatte man Madame Berthier gefunden …
Sie öffnete die Haustür und hörte Schreie aus Iphigénies Loge.
»Das ist ein Skandal«, brüllte eine Männerstimme. »Sie sind dafür verantwortlich! Das ist ekelhaft! Sie haben diesen Raum gefälligst jeden Tag sauber zu machen! Da liegen Bierdosen, leere Flaschen und Papiertaschentücher auf dem Boden herum! Man stolpert über widerlichsten Unrat!«
Schimpfend kam der Mann aus der Hausmeisterloge. Joséphine erkannte Pinarelli junior. Iphigénie stand leichenblass hinter der mit einem Vorhang bespannten Glastür. Er machte kehrt und hob den Arm, als wollte er sie schlagen. Iphigénie legte den Riegel um. Joséphine stürzte vor und packte ihn am Arm. Der Mann riss sich von ihr los und stieß sie mit erstaunlicher Kraft zu Boden. Joséphines Kopf knallte gegen die Wand.
»Sie sind ja verrückt!«, rief sie verstört.
»Ich verbiete Ihnen, sie zu verteidigen! Sie wird schließlich dafür bezahlt! Sie hat ordentlich zu putzen, die blöde Schlampe!«
Ein Speichelfaden rann über sein zitterndes Kinn, rote Flecken hatten sich auf seiner Haut ausgebreitet, und sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging, mehrere Stufen auf einmal nehmend, wieder nach oben.
»Ist alles in Ordnung, Madame Cortès?«
Joséphine zitterte und rieb sich den Kopf, um den Schmerz zu lindern.
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