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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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fassen, dass ich nie etwas von diesen magischen Kräften geahnt habe! Was hätte ich für schöne Komplotte schmieden können! Wie viele Feinde hätte ich mir vom Hals schaffen können! Und welches Vermögen ich angehäuft hätte! Wenn ich es nur gewusst hätte, wenn ich es nur gewusst hätte, dachte sie, während sie ihren Hut abnahm. Sie klopfte sich aufs Haar, um die Delle zu entfernen, die er hineingedrückt hatte, und lächelte ihr Spiegelbild an. Sie hatte eine neue Dimension entdeckt: die Allmacht. Von nun an galten die Gesetze der gewöhnlichen Sterblichen für sie nicht mehr. Von nun an würde sie, mit Chérubine fürs Grobe in der Hinterhand, ohne Umwege auf ihr Ziel zumarschieren und die glanzvollen alten Zeiten wiederauferstehen lassen. Her zu mir, Taschenkalender von Hermès, Seifen von Guerlain, zwölffädiger Kaschmir, Wäschewasser mit Lavendelduft, Visitenkarten von Cassegrain, Thalassotherapie im Hôtel Royal und ein übersprudelndes Konto.
    Es fehlte nicht viel, und sie hätte unter der Holztäfelung ihres Wohnzimmers Walzer getanzt. Sie zögerte, raffte ihren Rocksaum, holte Schwung und drehte sich, drehte sich in einem wahren Freudentaumel im Kreis. Die Welt gehörte ihr. Sie würde erbarmungslos herrschen. Und wenn ich erst einmal Millionärin bin, dann kaufe ich mir Freunde. Sie werden immer meiner Meinung sein, werden mit mir ins Kino gehen, meine Eintrittskarte bezahlen, das Taxi bezahlen, im Restaurant bezahlen. Ich brauche ihnen bloß ein paar Gefälligkeiten in Aussicht zu stellen, eine Erwähnung in meinem Testament, einen Bausparvertrag, und schon platzt mein Vorzimmer vor Freunden aus allen Nähten. Strauß-Walzer dröhnten in ihrem Kopf, und sie begann zu singen. Erst der Klang ihrer heiseren Stimme brach den Bann. Abrupt blieb sie stehen. Ich darf mich nicht in eitlen Träumereien verlieren, beschwor sie sich, ich muss mich am Riemen reißen, meinen Schlachtplan in die Tat umsetzen. Sie hatte sich noch nicht wieder an den alten Grobz herangemacht, aber der Tag war nicht mehr fern, an dem sie zum Telefon greifen und säuseln würde: Hallo, Marcel, hier ist Henriette. Was hältst du davon, wenn wir noch einmal miteinander reden, ohne Anwälte oder sonstige Mittelsmänner? Er wäre nicht mehr in der Verfassung, ihr zu widerstehen, sie würde von ihm alles bekommen, was sie wollte. Dann brauchte sie auch nicht mehr den Blinden unten vor ihrem Haus zu bestehlen.
    Wenngleich …
    Da war sie sich nicht so sicher.
    Jeden Tag diesen armen Mann zu berauben, ohne dabei erwischt zu werden, und mit einem schnellen Handgriff ein paar warme Münzen einzusammeln, verlieh ihrem Leben einen gewissen Reiz. Es bereitete ihr ein ungeahntes Vergnügen. Denn es lässt sich nicht leugnen, mit zunehmendem Alter werden die Vergnügungen weniger. Was bleibt einem denn noch an kleinen Freuden? Süßigkeiten, Lästereien und der Fernseher. Sie mochte weder Süßes noch die Mattscheibe. Nach Lästereien stand ihr schon eher der Sinn, doch für diese Zerstreuung braucht man einen Partner, und sie hatte keine Freundinnen. Habgier hingegen ist eine einsame Sache. Sie verlangt sogar, dass man dabei allein ist, eisern, konzentriert und unerbittlich. War sie nicht heute Morgen erst mit einem gemurmelten »minus zehn Euro!« auf den Lippen aufgewacht? Mit einem Satz hatte sie sich aufgerichtet. Nicht genug damit, dass sie den ganzen Tag über nichts ausgeben durfte, nein, um ihren Vertrag zu erfüllen, würde sie zusätzlich noch hier und da ein paar Münzen herausschlagen müssen. Wie sollte sie das anstellen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Aber die Ideen kamen beim Stehlen. Allmählich bekam sie Übung. Neulich zum Beispiel hatte sie im Morgengrauen – das war der Zeitpunkt, zu dem sie sich für gewöhnlich ihre Aufgaben stellte – erklärt: »Heute eine Flasche Champagner umsonst!« Von schmerzhafter Freude durchströmt, hatte sich ihr ganzer Körper verkrampft. Sie hatte nachgedacht und einen raffinierten Plan ausgearbeitet.
    In schlichter Kleidung, ohne Hut oder ein sonstiges Zeichen von Wohlstand, hatte sie in einem Paar alter, flacher Schuhe mit demütiger Miene einen Nicolas-Feuillatte-Laden betreten, die Hände gefaltet und mit feuchten Augen gefragt: »Hätten Sie vielleicht ein kleines Fläschchen von ihrem günstigsten Champagner für zwei alte Leutchen, die heute ihre goldene Hochzeit feiern? Wissen Sie, von unserer kleinen Rente können wir uns kaum etwas leisten …« Würdevoll stand sie da, wie

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