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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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musterte die Unordnung, bemerkte ein entfaltetes T-Shirt, einen fleckigen Rock, einzelne Socken, aber sie rührte sie nicht an. Sie hatte strengstes Aufräumverbot. Iphigénie war die Einzige, die Zoés Zimmer betreten durfte.
    Sie atmete den Duft ihrer Nivea-Creme ein, das holzige Aroma ihres Eau de Toilette, die warme Verschwitztheit, die aus den Laken aufstieg. Sie las die Zeitungsartikel, die Zoé ausschnitt und an die Wand hängte. Fett gedruckte Titel aus der Rubrik Vermischtes: »Nach dem Mord an seinen Eltern erbt er das Vermögen seiner Opfer«, »Lehrer ersticht sich vor den Augen seiner Schüler«, Fotokopien von Leserbriefen, in denen einzelne Sätze mit Textmarker angestrichen waren: »Ich mache mir Sorgen um die Zukunft dieser Welt …«, »Ich muss die neunte Klasse wiederholen«, »Zu jung, um mit einem Jungen rumzuknutschen«.
    Und in einer Zimmerecke stand Flat Daddy feierlich in seinem beigefarbenen Hemd, einen Fuß auf die am Boden liegende Antilope gestellt, und lächelte. Joséphine hätte ihn am liebsten umgestoßen. Sei nicht so feige, herrschte sie ihn an. Komm doch her und sag mir ins Gesicht, was du willst, statt aus der Ferne mein Leben zu vergiften! Die Fantasie einer Heranwachsenden anzustacheln, indem man ihr mysteriöse Botschaften schickt, ist einfach. Doch dann sah sie vor ihrem geistigen Auge einen zerfleischten Leichnam und schämte sich.
    Sie hatten nichts mehr von ihm gehört.
    Morgen begann der Frühling. Der erste Frühlingstag. Vielleicht hat er irgendwo einen Unterschlupf gefunden … Er richtet sich ein.
    Immer noch auf der Bettkante sitzend, dachte sie nach. Sie fühlte sich traurig, leer, machtlos. Machtlos, die Mauer einzureißen, die Zoé zwischen ihnen errichtet hatte und in der es nicht die kleinste Lücke gab, durch die sie hindurchschlüpfen könnte. Zoé kam aus der Schule und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Zoé stand nach dem Abendessen vom Tisch auf und ging in den Keller, um Paul Merson beim Schlagzeugspielen zuzuhören. Zoé rief »Gute Nacht, M’man« und ging wieder in ihr Zimmer. Sie war von einem Tag auf den anderen gewachsen, kleine Brüste rundeten sich unter ihrem Pullover, ihr Hintern wurde voller. Sie legte Lipgloss auf und tuschte sich die Wimpern. Bald wurde sie vierzehn, bald wäre sie genauso schön wie Hortense.
    Joséphine zwang sich, nicht die Hoffnung zu verlieren. Man kann alles verlieren, beide Arme, beide Beine, beide Augen, beide Ohren, wenn man nur für zwei Cent Hoffnung bewahrt, ist man gerettet. Jeden Morgen wachte sie auf und dachte, heute wird sie mit mir reden. Die Hoffnung ist stärker als alles andere. Sie hält die Menschen davon ab, sich gleich umzubringen, wenn sie auf der Erde ankommen und sehen, dass sie in einem Slum oder in der Wüste gelandet sind. Sie gibt ihnen die Kraft zu denken: Es wird regnen, hier wird eine Bananenpflanze wachsen, ich werde im Lotto gewinnen, ein wundervoller Mann wird mir sagen, dass er mich über alles liebt. Sie kostet nicht viel und kann das ganze Leben verändern. Bis zum Ende kann man hoffen. Manche Menschen schmieden noch zwei Minuten vor ihrem Tod Pläne.
    Wenn ihre Hoffnung schwand, wenn sie so lange gearbeitet hatte, dass sie kein einziges Wort mehr lesen konnte, dann klappte sie ihren Laptop zu und flüchtete in Iphigénies Loge zu Monsieur Sandoz. Die Ikea-Möbel würden bald geliefert werden, bis dahin musste die Farbe trocken und das Parkett verlegt sein. Monsieur Sandoz war Anstreicher. Das Arbeitsamt von Nanterre hatte ihn geschickt. Joséphine hatte ihm erklärt, was alles zu tun sei, und er hatte geantwortet: »Kein Problem, ich bin alles in einer Person: Anstreicher, Elektriker, Installateur, Schreiner!«
    Manchmal half sie ihm bei der Arbeit. Clara und Léo schlossen sich ihnen an, wenn sie aus der Schule kamen. Monsieur Sandoz lieh ihnen einen Pinsel und beobachtete sie mit einem traurigen Lächeln. »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«, sagte er dabei immer wieder, »Gegenwart und Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.« Er schüttelte den Kopf, als versetzten ihn diese Worte auf den Grund eines trüben Tümpels. Jeden Morgen kam er in Anzug und Krawatte in die Loge und zog seine Latzhose an. Mittags tauschte er sie wieder gegen Anzug und Krawatte, wusch sich die Hände und ging zum Essen in ein Bistro. Er legte großen Wert auf seine Würde. Vor einigen Jahren hatte er sie beinahe verloren. Erst im letzten Moment hatte er sie wiedergefunden und

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