Der langsame Walzer der Schildkroeten
achtete nun sorgsam darauf, sie nicht mehr zu verlegen. Er erklärte nie, wie er sie beinahe verloren hätte. Und Joséphine stellte ihm keine Fragen. Sie spürte den Schmerz und das Unglück, die sprungbereit unter der Oberfläche lauerten. Sie wollte den Schlamm auf dem Grund des Tümpels nicht aufwühlen, bloß um ihre Neugier zu befriedigen.
Er hatte sehr schöne blaue Augen, sehr traurig, aber sehr blau. Er arbeitete sorgfältig, war fleißig und neigte zu melancholischen Schüben. Dann legte er seinen Pinsel weg und wartete stumm, bis die Melancholie wieder von ihm wich. In solchen Momenten glich er Buster Keaton, verloren im Ansturm der Bräute. Sie führten lange Gespräche, die häufig von einem Detail ausgingen.
»Wie alt sind Sie, Monsieur Sandoz?«
»So alt, dass niemand einen mehr haben will.«
»Etwas genauer, bitte.«
»Neunundfünfzigeinhalb … Alt genug, um über Bord geworfen zu werden!«
»Wieso sagen Sie das?«
»Weil ich bisher nicht begriffen hatte, dass man alt und gleichzeitig immer noch zwanzig sein kann.«
»Das ist doch wunderbar!«
»Nein, überhaupt nicht! Wenn ich eine Frau treffe, die mir gefällt, bin ich zwanzig Jahre alt, ich pfeife vor mich hin, besprühe mich mit Eau de Toilette, binde mir ein Halstuch um, aber wenn ich sie küssen will und sie mich abweist, dann bin ich plötzlich wieder sechzig! Ich betrachte mich im Spiegel, sehe Falten, Haare in meinen Nasenlöchern, weiße Haare, gelbe Zähne, ich strecke die Zunge heraus, sie ist belegt, und ich fühle mich schlecht … zwanzig und sechzig, das passt nicht zusammen.«
»Und in sich fühlen Sie die Seele eines alten Mannes …«
»In mir fühle ich die Seele eines verwirrten Mannes. Ich habe einen fünfundzwanzigjährigen Sohn, und ich will auch fünfundzwanzig sein. Ich verliebe mich in seine Freundinnen, ich jogge in kurzen Hosen, ich schlucke Vitamine, ich stemme Gewichte. Ich bin erbärmlich. Aber ich sehe keinen anderen Ausweg, denn heutzutage ist Jugend nicht nur ein Lebensabschnitt, sondern eine Voraussetzung fürs Überleben. Das war früher nicht so!«
»Täuschen Sie sich nicht«, entgegnete Joséphine. »Schon im zwölften Jahrhundert setzte man die Alten auf die Straße.«
Er hörte auf zu streichen und sah sie erwartungsvoll an.
»Ich kenne eine Verserzählung über einen Sohn, der seinen Vater aus dem Haus wirft«, erklärte Joséphine. »Er hat gerade geheiratet und will mit seiner jungen Frau allein leben. Die Erzählung heißt La Housse partie oder »Die geteilte Decke«. Der Sohn spricht darin zu seinem alten Vater, der ihn anfleht, ihn nicht hinaus auf die Straße zu schicken:
Ihr braucht nur durch die Gassen gehn,
Zehntausend andre werdet Ihr sehn,
Die gleich Euch dort ihr Auskommen suchen.
Da findet auch Ihr Euer Stück vom Kuchen,
Wenn nicht, wär’s doch ein starkes Stück.
Dort lauert jeder auf sein Glück!
Sie sehen, damals schon bedeutete das Alter nicht gerade das Paradies auf Erden! Sie lebten in Gruppen zusammen, von allen verstoßen, dazu verdammt, zu betteln oder zu stehlen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich erforsche das Mittelalter. Am liebsten suche ich Parallelen zwischen gestern und heute. Und davon gibt es mehr, als man glaubt. Die Gewaltbereitschaft der jungen Leute, ihre Verzweiflung angesichts einer unsicheren Zukunft, Saufgelage am Abend, Gruppenvergewaltigungen junger Mädchen, Piercings, Tätowierungen, all das findet man schon in den alten Verserzählungen.«
»Dann ist es also immer das gleiche Elend …«
»… und die gleiche Angst. Die Angst vor einer sich wandelnden Welt, die man nicht mehr wiedererkennt. Die Welt hat sich nie so stark verändert wie im Mittelalter. Auf Chaos folgt Erneuerung. Es ist ein ewiger Kreislauf …«
Er zündete sich eine Zigarette an, wobei etwas rosa Farbe auf seine Nase geriet. Er lächelte kläglich.
»Und woher weiß man, dass sie Angst hatten?«
»Aus alten Texten und durch die Gegenstände, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden. Die Menschen waren besessen von der Sorge um ihre Sicherheit. Sie errichteten Mauern, um sich vor ihren Nachbarn zu schützen, Burgen und Türme, um mögliche Angreifer abzuschrecken. Das Entscheidende war, um jeden Preis Furcht einflößend zu wirken. Viele Gräben, Ringmauern und Schießscharten waren rein symbolische Verteidigungsanlagen, die niemals benutzt wurden. Riegel, Vorhängeschlösser und Schlüssel werden bei Ausgrabungen sehr häufig gefunden. Alles war mit
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