Der langsame Walzer der Schildkroeten
können auch gerne ein paar Verwandte einladen, wenn Sie wollen.«
»Wenn das so ist, frage ich meine Schwester, ob sie kommen möchte, dann kann sie sich auch gleich meine Wohnung ansehen.«
»Und die Vorräte für die Feier holen wir vom Intermarché?«
»Einverstanden.«
»Viel Spaß beim Lesen, Madame Cortès, ich glaube, es ist ein Buch!«, fügte Iphigénie hinzu und deutete auf das Päckchen.
Es kam aus London. Sie erkannte die Schrift nicht.
Hortense? Sie war umgezogen. Sie hatte es mit ihrer Mitbewohnerin nicht mehr ausgehalten. Sie rief hin und wieder an. Alles läuft gut. Ich mache gerade ein Praktikum bei Vivienne Westwood, ich habe drei Tage in ihrem Atelier gearbeitet, das war toll. Ich habe die Anfänge der neuen Kollektion mitverfolgt, aber ich darf nicht darüber reden. Ich lerne Unterkonstruktionen zu bauen, Korsetts mit feinen Mullstoffen zu bekleiden und Riesenhüte oder Spitzenwimpel herzustellen. Meine Finger bluten. Ich mache mir jetzt schon Gedanken über mein nächstes Praktikum. Kannst du Lefloc-Pignel fragen, ob ihm etwas einfällt, oder soll ich ihn lieber selbst anrufen?
Vorsichtig öffnete Joséphine das Päckchen. Ein von Hortense entworfenes Schnittmuster für ein Kleid? Ein schmales Büchlein über die verheerenden Auswirkungen von Zucker an englischen Schulen, zu dem Shirley das Vorwort verfasst hatte? Fotos hüpfender Eichhörnchen von Gary?
Es war ein Buch. Die Neun Junggesellen von Sacha Guitry. Eine bibliophile Ausgabe mit rotem Kalbsledereinband. Sie schlug es auf. Eine steile Schrift in schwarzer Tinte sprang ihr vom weißen Vorsatzblatt entgegen: »Man kann jemanden, der einen liebt, dazu bringen, den Blick zu senken, nicht aber jemanden, der einen begehrt. Ich liebe und begehre dich. Philippe.«
Sie drückte das Buch an ihre Brust und wurde von einer Woge des Glücks erfasst. Er liebte sie! Er liebte sie!
Sie küsste den Einband. Schloss die Augen. Sie hatte es den Sternen versprochen … Sie würde Karmeliterin werden und hinter Klostermauern in ewigem Schweigen verschwinden.
Die Kellnerin trug weiße Turnschuhe, einen schwarzen Minirock, ein weißes T-Shirt und eine kleine Schürze um die Hüften. Das blonde Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, wirbelte sie durch das Lokal, umrundete die Tische, schob sich geschmeidig zwischen zwei Gästen hindurch und schien über zwei Paar Ohren zu verfügen, um die Bestellungen aufzuschnappen, die man ihr von allen Tischen aus zurief, und vier Arme, um die Teller zu tragen, ohne sie fallen zu lassen. Es war Mittagszeit, und alle hatten es eilig. Ein strahlendes Lächeln schwebte auf ihren Lippen, als wäre sie in Gedanken anderswo. Woran sie wohl denkt, was sie so glücklich macht?, fragte sich Monsieur Sandoz, während er einen Blick auf die Speisekarte warf. Er würde das Tagesgericht nehmen, Bratwurst mit Kartoffelpüree. Es kommt selten vor, dass Menschen so geheimnisvoll vor sich hinlächeln. Haben alle Leute ein Geheimnis, das sie glücklich oder unglücklich macht? Möchte ich das Geheimnis des jungen Mädchens kennen? Ja, natürlich …
»Und was darf ich Ihnen bringen?«, fragte das Mädchen und senkte seinen blassgrauen Blick auf ihn herab.
»Einmal das Tagesgericht. Und ein Glas Leitungswasser, bitte.«
»Keinen Wein?«
Er schüttelte den Kopf. Keinen Wein mehr. Der Alkohol hatte ihn auf den Grund des Tümpels gebracht. War schuld daran, dass er seine Stelle als Ingenieur, seine Frau und seinen Sohn verloren hatte. Nie wieder würde er auch nur einen Tropfen Alkohol trinken. Jeden Morgen beim Aufstehen sagte er sich, ich werde bis heute Abend durchhalten, und jeden Abend beim Schlafengehen dachte er, wieder ein gewonnener Tag. Seit zehn Jahren trank er nicht mehr, aber er wusste, dass der Wunsch, nach einem Glas zu greifen, immer noch da war. Er konnte ihn beinahe spüren, wie eine künstliche Hand.
»Valérie!«, rief eine Stimme hinter dem Tresen. »Zwei Kaffee und die Rechnung für die sechs!«
Das blonde Mädchen hatte sich abgewandt und »einmal Bratwurst!« gerufen.
Also hieß sie Valérie. Valérie, die lächelt, Valérie, die ein freundliches Wort für jeden hat, Valérie, die nicht älter als zwanzig zu sein scheint. Valérie, die sich über zwei Männer beugt, die gerade ihre Mahlzeit beenden. Einer der beiden sah aus, als wäre er den Seiten des Figaro Économie entsprungen, während der andere einer aufgeschreckten Libelle glich. Er zappelte auf seinem Stuhl herum, zuckte und
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