Der langsame Walzer der Schildkroeten
Arbeitsleben als Schreibkraft im Marineministerium war sie schließlich in Rente gegangen. Bei jeder Eigentümerversammlung verspritzte sie ihr Gift. Das war ihr einziges Ventil. Den Rest des Jahres über sparte sie, um die wahnwitzigen Ausgaben bestreiten zu können, die die A-Bewohner allen anderen aufzwangen.
Nachdem sie Lefloc-Pignel provoziert hatte, attackierte sie Monsieur Merson wegen eines falsch geparkten Rollers und machte eine Andeutung über seinen zügellosen Geschlechtstrieb, was ihn vor Wonne schnurren ließ. Als sie sah, dass er sich durch ihre Worte eher geschmeichelt fühlte, statt sich darüber zu ärgern, wandte sie sich Monsieur van den Brock und dem Klavier seiner Frau zu.
»Und ich verlange, dass dieser Krach aufhört, der zu jeder Tages- und Nachtzeit aus Ihrer Etage dringt!«
»Das ist kein Krach, Madame, das ist Mozart!«, versetzte Monsieur van den Brock.
»Wenn Ihre Frau spielt, höre ich da keinen Unterschied!«, zischte die Schlange.
»Dann wechseln Sie Ihr Hörgerät! Es übersteuert!«
»Von wegen übersteuert! Warum gehen Sie nicht zurück in Ihr eigenes Land, dann hätten wir hier wenigstens unsere Ruhe!«
»Ich bin Franzose, Madame, und stolz darauf …«
»Van den Brock? Das soll französisch sein?«
»Ja, Madame.«
»Ein blonder Kanake, der sich wunders wie aufspielt und seinen wehrlosen Patientinnen kleine Bastarde in die Bäuche pflanzt!«
»Madame!«, entfuhr es Monsieur van den Brock, dem angesichts dieser ungeheuerlichen Anschuldigung die Luft wegblieb.
Der erschöpfte Verwalter hatte das Handtuch geworfen. Er zeichnete Kreise und Quadrate auf die erste Seite der Tagesordnung, sein Ellbogen schien das Gewicht seines Kopfes nicht mehr lange halten zu können. Sie hatten noch dreizehn Punkte vor sich, und es war bereits sieben Uhr abends. Bei jeder Eigentümerversammlung erlebte er die gleichen Szenen, und er fragte sich, wie es diese Leute bloß schafften, den Rest des Jahres über im selben Haus zu leben.
Auch die übrigen Anwesenden fielen nun ein und taten ihre Ansichten über Rassismus, Toleranz und die Maßlosigkeit ihrer Worte kund, doch Mademoiselle de Bassonnière ließ sich nicht bremsen. Bestärkt durch Monsieur Pinarelli, der jeden ihrer Anwürfe mit einem »Das musste aber auch mal gesagt werden!« kommentierte, was sie auch dann noch zu immer weiteren Äußerungen anstachelte, wenn sie selbst möglicherweise dazu geneigt hätte, endlich Ruhe zu geben.
»Die Bassonnières und die Pinarellis wohnen schon von Anfang an in dem Haus, und für sie ist es so, als wären fremde Horden in ihr Reich eingedrungen! Wir sind ihre Immigranten!«, erklärte Monsieur Merson.
»Diese Frau ist gefährlich«, sagte Joséphine. »Sie strahlt einen solchen Hass aus!«
»Sie wurde schon zweimal zusammengeschlagen. Einmal von einem Araber, den sie auf der Post als Sozialschmarotzer beschimpft hatte, und das zweite Mal von einem Polen, den sie beschuldigte, ein Nazi zu sein, weil sie ihn für einen Deutschen gehalten hatte! Aber statt sie zu beruhigen, steigern diese Angriffe ihre Verbitterung noch; sie hält sich für ein Opfer und jammert über die Ungerechtigkeit und ein weltweites Komplott. Ihretwegen wechseln wir alle zwei Jahre die Concierge. Sie tyrannisiert sie, lässt ihr keine ruhige Minute, und der Verwalter knickt jedes Mal ein. Aber Pinarelli ist auch nicht schlecht! Wussten Sie, dass er Iphigénie nicht ausstehen kann und sie als ledige Mutter beschimpft? ›Ledige Mutter‹! Das ist doch ein Begriff aus dem letzten Jahrhundert!«
»Aber sie hat doch einen Mann! Das Problem ist nur, dass er im Gefängnis sitzt …«, prustete Joséphine heraus.
»Woher wissen Sie das?«
»Sie hat es mir erzählt …«
»Verstehen Sie beide sich gut?«
»Ja. Ich mag sie sehr gern. Und ich weiß, dass sie in ihrer Loge eine kleine Feier veranstalten möchte, wenn die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind … Aber das wird schwierig«, sagte Joséphine mit einem Blick auf die Anwesenden und seufzte.
Monsieur Merson brach in schallendes Gelächter aus, das wie ein Donnerschlag durch den Saal hallte. Alle drehten sich zu ihm um.
»Das sind die Nerven«, entschuldigte er sich mit einem breiten Grinsen. »Aber wenigstens entspannt es die Lage wieder ein bisschen! Mademoiselle de Bassonnière, Sie sind unwürdig, Teil unserer Gemeinschaft zu sein.«
Ihr blieb vor Empörung die Luft weg, und sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Dabei murmelte sie vor sich hin, dass
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