Der langsame Walzer der Schildkroeten
auch, denn ich habe immer Angst, es könnte irgendwann aufhören.
Meiner Mutter habe ich nichts davon erzählt. Es macht mich fertig, wenn ich daran denke. Ich frage mich, ob ihr Innerstes auch explodiert, wenn sie an Philippe denkt. Ich frage mich, ob die Liebe in jedem Alter gleich ist …
Als Joséphine die Tür des Saals öffnete, in dem die Eigentümerversammlung stattfand, wurde gerade über den Sitzungsleiter abgestimmt. Sie kam zu spät. Shirley hatte angerufen, als sie gerade loswollte. Danach hatte sie schimpfend auf den Bus gewartet. Bei dem ganzen Geld, das ich verdient habe, könnte ich mir ruhig mal ein Taxi leisten! Den Umgang mit Geld muss man erst lernen. Man lernt, es zu verdienen, und man lernt, es auszugeben. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn sie es für die kleinen Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten, Freuden des Lebens verschwendete. Geld gab man in ihren Augen immer noch nur für die »wichtigen« Dinge aus: die Wohnung, das Auto, Hortenses Studium, die Gebühren, die Steuern. Es für Überflüssiges aus dem Fenster zu werfen, widerstrebte ihr. Sie schaute dreimal auf das Preisschild eines Mantels und stellte das Parfüm für neunundneunzig Euro zurück.
Man hätte meinen können, sie beträte einen Prüfungssaal. Etwa vierzig Personen saßen vor Unterlagen, die sie auf die seitliche Ablage an ihrem Stuhl gelegt hatten. Sie setzte sich in den hinteren Teil des Raums neben einen Mann mit rundem Gesicht und schlecht gekämmten Haaren, der auf seinem Stuhl hing wie in einem Liegestuhl. Es fehlten nur noch die Sonnencreme und der Sonnenschirm. Mit überkreuzten Füßen klopfte er im Takt und starrte dabei unverwandt auf seine Schuhspitzen. Er musste wohl einen Akkord verpasst haben, denn er stockte kurz und murmelte »Scheiße!«, ehe seine Füße ihr rhythmisches Klopfen wieder aufnahmen.
»Guten Tag«, sagte Joséphine, als sie sich auf den Stuhl neben ihm sinken ließ. »Ich bin Madame Cortès, fünfter Stock …«
»Und ich bin Monsieur Merson, der Vater von Paul … und der Mann von Madame Merson«, antwortete er, und all seine Falten hoben sich zu einem fröhlichen Lächeln.
»Sehr erfreut«, sagte Joséphine errötend.
Er hatte einen stechenden Blick, der durch ihre Kleider zu dringen versuchte, als wollte er die Marke ihres Büstenhalters lesen.
»Gibt es auch einen Monsieur Cortès?«, fragte er und neigte sich zu ihr herüber.
Verwirrt tat Joséphine so, als hätte sie nichts gehört.
Pinarelli junior hob die Hand, um sich als Sitzungsleiter zu bewerben.
»Sieh an! Er ist ohne seine Mama gekommen! Wie tapfer!«, bemerkte Monsieur Merson.
Eine etwa fünfzigjährige Frau mit strengen Zügen, die direkt vor ihm saß, drehte sich um und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Mager, beinahe schon dürr, das Haar zu einem schwarzen Helm geschnitten, die kohlschwarzen Brauen zu dichtem Gestrüpp verschlungen, glich sie einer Vogelscheuche.
»Ich muss doch sehr bitten! Mäßigen Sie sich!«, krächzte sie.
»Das war nur ein Scherz, Mademoiselle de Bassonnière, nur ein Scherz …«, entgegnete er mit einem strahlenden Lächeln.
Sie zuckte ärgerlich mit den Schultern und drehte sich wieder um. Monsieur Merson zog einen Schmollmund wie ein Kind.
»Sie werden bald merken, dass die hier sehr wenig Humor haben.«
»Habe ich etwas Wichtiges verpasst?«
»Ich fürchte, nicht! Das Hauen und Stechen beginnt erst später. Noch sind wir bei den Horsd’œuvres. Bis jetzt hat keiner das Messer gezückt… Ist das Ihr erstes Mal?«
»Ja. Ich bin im September eingezogen.«
»Na dann, herzlich willkommen beim Kettensägenmassaker … Sie werden nicht enttäuscht sein. Hier fließt gleich Blut!«
Joséphines Blick glitt durch den Saal. In der ersten Reihe erkannte sie Hervé Lefloc-Pignel, der neben Monsieur van den Brock saß. Die beiden Männer tauschten Unterlagen aus. Ein Stück weiter in derselben Reihe saß Monsieur Pinarelli. Sie hatten darauf geachtet, drei freie Stühle zwischen sich zu lassen.
Der Hausverwalter, ein Mann in grauem Anzug mit unbestimmtem Blick und einem sanften, entgegenkommenden Lächeln, erklärte, dass somit Monsieur Pinarelli die Versammlung leiten werde. Dann mussten noch ein Schriftführer und zwei Beisitzer ausgewählt werden. Gierig hoben sich mehrere Hände.
»Das ist ihre Stunde des Ruhms!«, flüsterte Monsieur Merson. »Der Rausch der Macht. Sie werden es gleich sehen.«
Die Tagesordnung umfasste sechsundzwanzig Punkte, und
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