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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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dabei überfahren zu werden, nahm allein die U-Bahn oder den Bus. Er besuchte die französische Schule, aber er war ein echter kleiner Brite geworden. Und das innerhalb weniger Monate. Philippe hatte darauf bestehen müssen, dass zu Hause Französisch gesprochen wurde, damit Alexandre seine Muttersprache nicht verlernte. Er hatte eine französische Kinderfrau eingestellt. Annie stammte aus der Bretagne. Aus Brest. Sie war stämmig, um die fünfzig. Alexandre schien gut mit ihr auszukommen. Sein Sohn begleitete ihn in Museen, stellte Fragen, wenn er etwas nicht verstand. Woher weiß man vor allen anderen, ob etwas schön oder hässlich sein wird? Als Picasso angefangen hat, alles kreuz und quer zu malen, fanden die meisten Leute das doch hässlich. Und jetzt findet man das schön … Manchmal waren seine Fragen philosophischerer Natur: Soll man lieben, um zu leben, oder leben, um zu lieben? Oder sie betrafen die Ornithologie: Können Pinguine eigentlich AIDS bekommen, Papa?
    Das einzige Thema, das er niemals ansprach, war seine Mutter. Wenn sie sie in ihrem Zimmer in der Klinik besuchten, saß er reglos auf einem Stuhl, die Hände auf den Knien, den Blick in die Ferne gerichtet. Ein einziges Mal hatte Philippe sie allein gelassen, weil er glaubte, seine Anwesenheit hielte sie davon ab, miteinander zu reden.
    Als sie wieder im Auto saßen, hatte Alexandre erklärt: »Lass mich ja nie wieder mit Maman allein, Papa. Sie macht mir Angst. Richtig Angst. Sie ist da, aber gleichzeitig ist sie nicht da, ihre Augen sind leer.« Dann hatte er seinen Sicherheitsgurt angelegt und in gelehrtem Medizinerton hinzugefügt: »Sie hat stark abgenommen, findest du nicht?«
    Er hatte alle Zeit der Welt, sich um seinen Sohn zu kümmern, und das nutzte er weidlich aus. Er hatte die Leitung seiner Pariser Anwaltskanzlei behalten, übte jedoch nur noch eine Aufsichtsfunktion aus. Er kassierte seinen Anteil am Gewinn, der beileibe nicht unbeträchtlich war, aber er unterlag keiner jener Verpflichtungen mehr, die ihn noch ein Jahr zuvor gezwungen hatten, an jedem einzelnen, mühseligen Tag in der Kanzlei zu erscheinen. Hin und wieder beschäftigte er sich mit schwierigen Fällen, wenn man ihn um Rat bat. Manchmal akquirierte er auch neue Mandanten, eine Aufgabe, die ihm recht gut gefiel, und begleitete den Einstieg in die Zusammenarbeit. Dann reichte er die Akten weiter. Eines Tages würde die Lust am Kämpfen, am Arbeiten zurückkehren.
    Doch einstweilen verspürte er dazu keinen besonderen Drang. Er fühlte sich, als hätte er einen Kater, der einfach nicht verging. Die Trennung von Iris war schleichend und brutal zugleich verlaufen. Er hatte sich innerlich mehr und mehr von ihr gelöst, sich von ihr entfernt, hatte sich an den Gedanken gewöhnt, sein Leben nicht mehr mit ihr zu teilen, und die Begegnung zwischen Iris und Gabor Minar im Waldorf Astoria in New York war wie ein Pflaster gewesen, das man mit einem Ruck abzog. Schmerzhaft, aber befriedigend. Er hatte gesehen, wie sich seine Frau einem anderen in die Arme warf, vor seinen Augen, als existierte er gar nicht. Das hatte wehgetan. Und gleichzeitig hatte er sich befreit gefühlt. Eine neue Empfindung, eine Mischung aus Verachtung und Mitleid, war an die Stelle der Liebe getreten, die er lange Jahre hindurch für Iris empfunden hatte. Ich habe ein Bild geliebt, ein wunderschönes Bild, aber ich selbst war auch nur ein Trugbild. Das trügerische Bild des Erfolgs. Ein Mann voller Selbstvertrauen, Hochmut, Gewissheiten. Ein Mann, der stolz darauf war, schnell zu sein, stolz auf seinen Erfolg. Ein Mann, der über einem Abgrund lebte.
    Nun war er ein anderer Mann geworden, frei von falschem Schein, von gesellschaftlichen Verpflichtungen. Ein Mann, den er immer besser kennenlernte, der ihn manchmal verwirrte. Welchen Anteil hatte Joséphine am plötzlichen Auftauchen dieses Mannes? Er wusste es nicht. Aber sie hatte einen Anteil daran, dessen war er sich gewiss. Auf ihre eigene, stille und zurückhaltende Weise. Joséphine ist wie ein wohltuender Meeresdunst, der einen umhüllt und dazu einlädt, seine Lungen zu entfalten. Er erinnerte sich an ihren ersten flüchtigen Kuss in seinem Pariser Büro. Er hatte nach ihrem Handgelenk gegriffen, sie an sich gezogen und …
    Er hatte beschlossen, nach London zu ziehen. Seine Pariser Gewohnheiten aufzugeben, um in einer fremden Stadt herauszufinden, was er wirklich wollte. Er hatte dort Freunde oder, besser gesagt, Bekannte, war Mitglied in einem

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