Der langsame Walzer der Schildkroeten
Nicht sagen, ich ruf dich an, wir sehen uns wieder. Das wäre feige. Er würde sie nicht wiedersehen. Sie hatte recht: Hoffnung ist ein gefährliches Gift. Er konnte ein Lied davon singen, er, der nicht aufhörte, zu hoffen.
Er nahm seine Jacke und seinen Schal. Sie sah ihm wortlos nach, als er ging.
Er schlug die Tür hinter sich zu und fand sich auf der Straße wieder. Schaute zum Himmel auf. Reicht dieser graue Himmel bis nach Paris? Um diese Uhrzeit schläft sie sicher noch. Ob sie meine weiße Kamelie bekommen hat? Hat sie sie auf ihren Balkon gestellt?
So würde er sie ganz sicher nicht vergessen. Es gelang ihm immer wieder, ein paar Tage nicht an sie zu denken, doch dann kam die quälende Sehnsucht wieder. Dafür genügte ein Nichts. Eine graue Wolke, eine weiße Kamelie.
Ein Lastwagen hielt neben ihm. Es begann zu nieseln. Ein feiner Nebel, der nicht nass machte. Er schlug seinen Kragen hoch und beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen.
Von Blaise Pascal stammt der Satz: »Es gibt Leidenschaften, die die Seele einengen und sie unbeweglich machen, und andere, die sie weiten und nach außen verströmen lassen.« Seit Marcel Grobz sie verlassen hatte, um mit seiner Sekretärin Josiane Lambert zusammenzuziehen, hatte Henriette Grobz eine Leidenschaft in sich entdeckt, die ihre Seele erstickte: Rachsucht. Sie kannte nur noch einen Gedanken: Marcel die Demütigung, die er ihr zugefügt hatte, hundertfach zu vergelten. Eines Tages wollte sie ihm sagen können: Du hast mir meine gesellschaftliche Stellung genommen, meinen Wohlstand, und das sollst du mir büßen, Marcel, ich schleife dich in den Dreck, dich und deine Dirne. Nichts wird euch mehr bleiben, ihr werdet euch die Augen ausweinen und zusehen, wie euer geliebter Sohn in Lumpen aufwächst, all der Hoffnungen beraubt, die ihr für ihn gehegt habt, während ich auf einem Goldhaufen tanze und für euch nur noch Verachtung übrighabe.
Sie verspürte den unbändigen Drang, Marcel Grobz zu verletzen, ihn mit glühenden Eisen zu brandmarken wie eine Ware, die einst ihr gehört hatte und ihr entwendet worden war. Wie konnte er es wagen?, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. Wie konnte er es wagen? Er hatte sie um ihre Rechte gebracht, ihre Privilegien, die lebenslange Versorgung, die sie sich durch die Heirat mit ihm gesichert hatte, ihm, diesem widerwärtigen Schwein, dessen einziger Reiz aus einem schönen, großen Vermögen bestand. Durch einen raffinierten Taschenspielertrick hatte er sie überlistet, sie, die geglaubt hatte, sich einen Vertrag aus Stahlbeton errichtet zu haben, der sie bis zu ihrem Tod vor aller Bedürftigkeit schützen würde. Er hatte ihr Gold gestohlen. Ihren großen Goldhaufen, über den sie wachte wie eine Mutter über ihr heiß geliebtes Kind.
Vergessen waren seine Güte, seine Großzügigkeit, die Hölle auf Erden, die sie ihm bereitet hatte, indem sie ihn wie einen jämmerlichen Eindringling behandelte, der sich erdreistete, an ihrem Tisch zu essen und die gleiche Luft zu atmen wie sie. Sie vergaß, dass sie, um ihn zu demütigen, darauf bestanden hatte, beim Essen drei verschiedene Gabeln zu benutzen, dass sie ihn gezwungen hatte, zu enge Hosen zu tragen und sich fehlerfrei einer unmöglichen Syntax zu bedienen. Sie vergaß, dass sie ihn aus dem ehelichen Bett verbannt und in eine winzige Kammer abgeschoben hatte, die kaum groß genug war für ein Bett und einen Nachttisch, sie wusste nur noch eines: Dieser elende Kerl hatte die Unverschämtheit besessen, sich gegen sie aufzulehnen und mit seinem Geld die Flucht zu ergreifen.
Rache, Rache!, schrie ihr ganzes Wesen ab dem frühen Morgen. Und sie lief durch ihre triste Wohnung, aus der die riesigen Blumensträuße verschwunden waren, die der Florist Veyrat früher lieferte, stellte fest, dass es keinen Butler mehr gab, mit dem sie das Menü absprechen konnte, keine Wäschefrau, die sich um ihre Garderobe kümmerte, kein Dienstmädchen, das ihr das Frühstück ans Bett brachte, keinen Chauffeur, der sie in Paris herumkutschierte, keine täglichen Besuche mehr beim Schneider, bei der Pediküre, beim Masseur, beim Friseur, bei der Maniküre. Ruiniert. Als sie tags zuvor an der Place Vendôme das neue Band ihrer Cartier-Uhr bezahlen sollte, hatte sie sich setzen müssen, nachdem sie den Betrag auf der Rechnung gesehen hatte. Sie kaufte ihre Kosmetika nicht mehr in der Parfümerie, sondern in der Drogerie, kleidete sich bei Zara ein, hatte auf den Taschenkalender von Hermès und den
Weitere Kostenlose Bücher