Der langsame Walzer der Schildkroeten
die Leute heutzutage bei jeder Kleinigkeit in Tränen aus. Einfach widerlich. Das erzeugt Generationen von Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, Verbitterten. Es erzeugt ein Land wie Frankreich, in dem alle bloß jammern und sich als Opfer hinstellen. Sie konnte Opfer nicht ausstehen. Mit Gary konnte sie reden. Bei ihm brauchte sie nicht so zu tun, als wäre sie eine Zweigstelle des Roten Kreuzes. Er war nicht oft ihrer Meinung, aber er hörte ihr zu und gab ihr Kontra.
Sie ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Alles perfekt aufgeräumt, es roch sauber, Gary konnte reinkommen, ohne auf einem Stringtanga oder einem Rest Guacamole auszurutschen.
Sie sah in den Spiegel: ebenfalls perfekt.
Sie streckte ihre langen Beine auf dem Sofa aus, musterte sie zufrieden und griff nach der neuesten Ausgabe von Harper’s Bazaar . »100 Schönheitstricks der Stars, der Profis, der besten Freundin.« Sie überflog den Text, kam zu dem Schluss, dass sie nichts mehr zu lernen hatte, und blätterte zum nächsten Artikel weiter: »Jeans ja, aber welche?« Sie gähnte. Das war der dreihundertste Beitrag zu diesem Thema. Diesen Moderedakteurinnen gehörte mal ordentlich der Kopf durchgefegt. Eines Tages wäre sie diejenige, die interviewt würde. Eines Tages gründe ich mein eigenes Label. Letzten Sonntag hatte sie auf dem Camden Market eine Jeans von Karl Lagerfeld gekauft. Ein Schnäppchen, und der Verkäufer hatte ihr versichert, dass sie echt sei. Fast neu, hatte er sie angepriesen, das Lieblingsmodell von Linda Evangelista. Und ab jetzt auch meins!, hatte sie verkündet und den Preis halbiert. Spar dir dein Geschwätz für die halben Portionen, die sich davon beeindrucken lassen, bei mir zieht das nicht! Natürlich würde sie ihr eine persönliche Note verleihen, sie in ein Ereignis verwandeln müssen: Sie würde Stulpen dazu tragen, eine taillierte Jacke und einen langen, grobgestrickten Schal.
In diesem Moment kam Agathe aus ihrem Zimmer. Sie hielt sich eine Flasche Marie Brizard an den Mund und trank. Wie eine Schlafwandlerin torkelte sie ein paar Schritte, rülpste, ließ sich aufs Sofa fallen, suchte ihre Kleider, rieb sich die Augen und kippte einen weiteren Schluck Likör, um wach zu werden. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich abzuschminken, und die Wimperntusche zog sich über ihre bleichen Wangen.
»Wow! Ist das sauber hier! Bist du mit dem Schlauch durch die Wohnung gegangen?«
»Themawechsel, sonst bring ich dich um.«
»Und dürfte ich erfahren, wo du meine Sachen hingetan hast?«
»Du meinst die Lumpen, die auf dem Boden lagen?«
Der blonde Hungerhaken nickte.
»In den Müll. Draußen vor der Tür. Zusammen mit deinen alten Kippen, den Haaren vom Teppich und den Pizzaresten.«
Der Hungerhaken schrie auf.
» Was hast du gemacht?«
»Und beim nächsten Mal mache ich es wieder genauso, bis du endlich anfängst aufzuräumen.«
»Das war meine Lieblingsjeans! Eine Designerjeans, zweihundertfünfunddreißig Pfund!«
»Und woher hattest du das Geld dafür, du blutarme Presswurst?«
»Untersteh dich, so mit mir zu reden!«
»Ich sage, was ich denke, und, glaub mir, ich halte mich noch zurück. Wenn ich dich sehe, fallen mir viel schlimmere Bezeichnungen ein, aber die verkneife ich mir, weil ich zu gut erzogen bin.«
»Das wirst du mir büßen! Ich hetz dir Carlos auf den Hals!«
»Deinen dunkelhäutigen Waschlappen? Entschuldige, aber der reicht mir gerade mal bis ans Kinn, und auch das nur, wenn er auf einen Stuhl steigt.«
»Lach nur … Dir wird das Lachen schon vergehen, wenn er dir die Titten mit Zangen zerfetzt!«
»Mein Gott, jetzt hab ich aber Angst! Siehst du, wie ich zittere?«
Die Flasche immer noch in der Hand, wankte Agathe zur Tür, um ihre Sachen zurückzuholen. Draußen im Flur stand Gary, der gerade klingeln wollte. Er kam herein, schnappte sich die Harper’s Bazaar und steckte sie in die Tasche.
»Seit wann liest du denn Mädchenzeugs?«, fragte Hortense verblüfft.
»Ich pflege meine weibliche Seite …«
Hortense warf einen letzten Blick auf ihre Mitbewohnerin, die ihre Jeans aus dem Müllsack zerrte und dabei quiekte wie ein verängstigtes Ferkel.
»Komm, wir verschwinden …«, sagte sie und griff nach ihrer Handtasche.
Im Treppenhaus kam ihnen ebenjener Carlos entgegen, einen Meter achtundfünfzig groß, siebzig Kilo schwer, die Haare kohlschwarz gefärbt, die Haut von hartnäckiger früherer Akne gezeichnet. Er musterte sie.
»Was hat er denn? Will der ein Foto
Weitere Kostenlose Bücher