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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Joséphine entschied, dass sie Informatikerin war, Single, keine Kinder hatte und niemals spülte. Samstagnachts zog sie durch die Klubs, tanzte bis drei Uhr morgens und ging allein nach Hause. Neben ihr saß ein Mann mit hängenden Schultern in einem roten Rollkragenpullover und einer zu großen, etwas abgetragenen grauen Jacke, der Joséphine den Rücken zuwandte. Eine Frau wollte sich hinsetzen, und er drehte sich zur Seite, um sie vorbeizulassen. Da sah sie sein Gesicht und erstarrte. Antoine! Es war Antoine. Er schaute nicht in ihre Richtung, aber er war es. Sie trommelte gegen die Scheibe, so fest sie konnte, rief »Antoine!, Antoine!«, stand auf, hämmerte gegen das Glas, der Mann wandte den Kopf, sah sie erstaunt an und winkte knapp. Als wäre ihr Auftritt ihm peinlich, als forderte er sie auf, sich doch wieder zu beruhigen.
    Antoine!
    Eine lange Narbe zog sich über seine rechte Wange, und sein rechtes Auge war geschlossen.
    Antoine?
    Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.
    Antoine?
    Er schien sie nicht zu kennen.
    Die Türen schlossen sich wieder. Die Métro setzte sich in Bewegung. Joséphine ließ sich auf ihren Sitz zurückfallen, drehte den Kopf nach hinten und versuchte noch einen letzten Blick auf den Mann zu erhaschen, der Antoine so ähnlich sah.
    Das ist nicht möglich. Wenn er noch am Leben wäre, hätte er sich bei uns gemeldet. Er hat unsere Adresse nicht, wisperte Zoés leise Stimme. Eine Adresse lässt sich doch herausfinden! Ich habe ja schließlich auch das Paket mit seinen Sachen bekommen! Er kann Henriette danach fragen!
    Aber sie konnte ihn nicht ausstehen, entgegnete Zoés leise Stimme.
    Der Junge blätterte die Seite seines Drehstrom-Skripts um. Die Studenten kreisten mit rotem Filzstift eine Wohnung in der Rue de la Glacière ein. Zwei Zimmer, siebenhundertfünfzig Euro. Ein Mann, der an der Station Passy eingestiegen war, blätterte in einer Zeitschrift über Zweitwohnsitze. Finanzierung und steuerliche Aspekte. Er trug ein weißes Hemd, einen grauen Anzug mit himmelblauen Nadelstreifen und eine blau gepunktete Krawatte. Der Mann, den sie für Antoine gehalten hatte, trug einen roten Rollkragenpullover. Antoine hasste Rollkragenpullover. Antoine hasste Rot. Das sei eine Farbe für LKW -Fahrer, behauptete er immer.
    Sie verbrachte den Nachmittag in der Bibliothek, aber sie kam mit ihrer Arbeit kaum voran. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder sah sie das Métro-Abteil und seine Insassen, die dicke Frau mit den Karos, die dünne Frau mit dem grünen Eyeliner und … Antoine im roten Rollkragenpullover. Sie schüttelte den Kopf und versenkte sich wieder in ihre Texte. Heilige Hildegard von Bingen, sag mir, dass ich nicht verrückt bin. Warum kommt er zurück und quält mich?
    Um Viertel vor sechs räumte sie ihre Unterlagen und Bücher zusammen und nahm die Métro in die entgegengesetzte Richtung. An der Station Passy hielt sie nach einem Mann in rotem Rollkragenpullover Ausschau. Vielleicht ist er obdachlos. Er lebt in einem Métro-Zug. Er hat die Linie sechs ausgesucht, weil sie oberirdisch fährt, weil man aus ihren Zügen Paris wie auf einer Postkarte sieht, weil er so den funkelnden Eiffelturm bewundern kann. Nachts schläft er, in einen alten Mantel gehüllt, unter einem Brückenbogen der oberirdischen Linie. Viele suchen dort Zuflucht. Er weiß nicht, wo ich wohne. Er irrt wie ein Einsiedler umher. Er hat das Gedächtnis verloren.
    Um halb sieben betrat sie Zoés Schule. Jeder Lehrer hielt in einem Klassenraum seine Sprechstunde ab. Die Eltern standen im Flur Schlange und warteten, bis sie an der Reihe waren, über die Probleme oder Glanzleistungen ihres Kindes zu reden.
    Sie notierte sich die Namen der Lehrer, die Raumnummern und die Uhrzeit, zu der sie erwartet wurde. Dann reihte sie sich in die Schlange vor dem Raum der Englischlehrerin Miss Pentell ein, bei der sie ihren ersten Termin hatte.
    Die Tür stand offen, und Miss Pentell saß hinter ihrem Schreibtisch. Vor ihr lagen die Noten eines Schülers und Anmerkungen zu seinem Verhalten im Unterricht. Für jedes Gespräch waren fünf Minuten vorgesehen, doch es kam nicht selten vor, dass ängstliche Eltern die Unterredung in die Länge zogen, weil sie hofften, es könne ihnen gelingen, ihren Nachwuchs im Ansehen des Lehrers steigen zu lassen. Die Eltern, die vor der Tür warteten, seufzten und sahen auf die Uhr. Manchmal kam es zu regelrechten Auseinandersetzungen. Sie war schon Zeugin heftigster Streitigkeiten

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