Der langsame Walzer der Schildkroeten
auf die Baumkronen gerichtet, sich auf die Kastanien konzentriert, die in ihrer braunen Schale aufplatzten. Sie liebte glasierte Kastanien und kaufte sie bei Fauchon. Sie hatte ganz vergessen, dass sie an Bäumen wuchsen.
Er hatte gehupt, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen, und hinzugefügt: »Oder suchen Sie vielleicht ’ne Möglichkeit, dem Chef eins reinzuwürgen, indem Sie hinter seiner Schönen und dem Kleinen herlaufen? Glauben Sie etwa, ich hätte Sie noch nicht bemerkt, so lange, wie Sie denen schon hinterherrennen?«
Zum Glück war außer ihr niemand da, der sich über diesen ungebührlichen Dialog hätte wundern können. Sie schaute zu ihm hinunter und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Diese Gelegenheit nutzte er zu einem letzten Schlag.
»Ich rate Ihnen zu verschwinden, und zwar dalli, sonst erzähl ich dem Chef davon. Und dann war’s das womöglich mit Ihrem Scheck am Monatsende!«
An diesem Tag gab Henriette ihre Verfolgungen auf. Sie musste unbedingt einen Weg finden, den beiden zu schaden, einen unsichtbaren, anonymen Weg. Eine Vergeltung aus der Ferne, bei der sie nicht selbst auftauchte.
Sie würde sich nicht von ihrem Kummer umbringen lassen, nein, sie würde ihren Kummer umbringen.
Joséphine vergewisserte sich, dass sie das Medaillon trug, und schlug die Tür hinter sich zu. Sie hatte sich an die von der heiligen Hildegard von Bingen empfohlenen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren erinnert: Man musste in einem Beutel die Reliquien eines Schutzheiligen oder Fragmente von Haaren, Fingernägeln oder der Haut des verstorbenen Familienoberhauptes am Leib tragen. Sie hatte Antoines Haarlocke in ein Medaillon gelegt und trug es nun um den Hals. Sie war davon überzeugt, dass Antoine sie gerettet hatte, indem er sich in Gestalt des Päckchens zwischen sie und den Mörder geworfen hatte; also konnte er sie auch beschützen, falls der Angreifer noch einmal auf sie losgehen sollte. Und wenn man sie deswegen für übergeschnappt hielt, war ihr das auch egal!
Schließlich war der Glaube an die schützende Funktion von Reliquien in Frankreich lange genug verbreitet gewesen, um ihnen ein wenig Vertrauen zu schenken. Bloß weil ich in einer Zeit lebe, die sich wissenschaftlich und rational gibt, bedeutet das nicht, dass ich kein Recht hätte, an das Übernatürliche zu glauben. Wunder, Heilige und Erscheinungen gehörten im Mittelalter zum Alltag. Man war sogar so weit gegangen, einem Hund heilende Kräfte zuzuschreiben. Im dreizehnten Jahrhundert in der Pfarre Châtillon-sur-Chalaronne. Sein Name war Guignefort. Er war von seinem Herrn im Zorn getötet worden. Der Edelmann bereute seine Tat und begrub den Hund mit allen Ehren, als sich herausstellte, dass das Tier seinen kleinen Sohn vor einer Schlange gerettet hatte. Eines Tages kam eine Bauersfrau an seinem Grab vorbei. Sie hatte ihren kleinen Sohn dabei, der unter hohem Fieber litt und dessen Gesicht von Pusteln bedeckt war. Sie legte das Kind auf dem Grab ab und ging aufs Feld, um Blumen zu pflücken. Als sie wieder zurückkam, strahlte das Kind über das ganze wie glatt gewaschene Gesicht und patschte in die Hände, um die Erlösung von seinem Leiden zu feiern. Die Bauersfrau erzählte allen von diesem Abenteuer, das bald ein »Wunder« genannt wurde. Die Frauen des Dorfes begannen zum Grab des Hundes zu pilgern, sobald ein Kind krank wurde. Singend kehrten sie zurück und priesen den Hund und seine übernatürlichen Kräfte. Bald kamen die Menschen von überallher, um kranke Kinder auf Guigneforts Grab abzulegen. Man machte aus ihm einen Heiligen. Heiliger Guignefort, belle für uns. Man betete zu ihm, man errichtete ihm einen Altar, man brachte ihm Opfergaben. Dies erregte ein solches Aufsehen, dass im Jahre 1250 ein Dominikaner, Étienne de Bourbon, diese abergläubischen Praktiken untersagte. Trotzdem hielten die Wallfahrten bis ins zwanzigste Jahrhundert an.
Joséphine wollte in der Bibliothek arbeiten und anschließend um halb sieben zum Elternsprechabend in Zoés Schule fahren. Du vergisst es doch nicht, Maman? Du bleibst nicht in irgendeinem Burgturm sitzen und schnupperst an einer Lilie? Sie hatte gelächelt und versprochen, pünktlich zu sein.
Und so saß sie jetzt in der Métro und drückte die Nase an die Scheibe. Sie dachte über den Aufbau ihrer Arbeit nach, über die Bücher, die sie zurate ziehen, die Bestellzettel, die sie ausfüllen musste, das Baguette und den Kaffee, die sie irgendwo im Stehen zu sich
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