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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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nehmen würde. Sie musste Nachforschungen über die Kleidung junger Mädchen anstellen. Ihre Aufmachung wandelte sich je nach Region, und anhand ihrer Kleidung konnte man erkennen, woher eine Frau stammte. Das vornehme Mädchen trug einen Chaperon und ein Kleid, dazu einen Gürtel, an dem kleine Beutel befestigt waren, denn das Mittelalter kannte noch keine Taschen. Über dem Kleid trug es einen Surkot, eine Art Mantel, der häufig gefüttert war, manchmal sogar mit dem Bauchfell von Eichhörnchen, der sogenannten Fehwamme. Heutzutage würden einem die Augen ausgekratzt und die Ohren abgerissen, wenn man es wagen würde, das Bauchfell von Eichhörnchen zu tragen!
    Sie drehte den Kopf zur Seite und warf einen Blick auf ihren Nachbarn, der in einem Elektrotechnik-Skript las. Ein Kapitel über Drehstrom. Sie versuchte, seine Notizen zu entziffern. Es war ein Gewirr aus roten Pfeilen und blauen Kreisen, aus Quadratwurzeln und Brüchen. Eine mit roter Tinte unterstrichene Überschrift lautete: »Was ist ein idealer Transformator?« Joséphine lächelte. Sie hatte gelesen: »Was ist ein idealer Mann?« Ihre Beziehung zu Luca war erlahmt. Sie übernachtete nicht mehr bei ihm: Sein Bruder war bei ihm eingezogen. Vittorio wurde immer unruhiger. Luca machte sich Sorgen um seinen Geisteszustand. Ich möchte ihn nicht allein lassen, und ich will ihn auch nicht einweisen lassen. Er ist geradezu besessen von Ihnen. Ich muss ihm beweisen, dass er der Einzige ist, der für mich zählt. Außerdem hatte der Verlag den Erscheinungstermin seines Buches über die Tränen vorverlegt, und er musste die Fahnen korrigieren. Er rief sie an, sprach von Filmen und Ausstellungen, die sie gemeinsam besuchen würden, verabredete sich aber nie mit ihr. Er geht mir aus dem Weg. Eine Frage ließ ihr keine Ruhe: Was hatte er ihr an jenem Abend, als er nicht zu ihrer Verabredung erschienen war, sagen wollen? »Ich muss mit Ihnen reden, Joséphine, es ist wichtig …« Hatte er die Gewaltausbrüche seines Bruders gemeint? Hatte Vittorio gedroht, ihr etwas anzutun? Oder hatte er etwa Luca selbst angegriffen?
    Seit sie ihm von dem Überfall erzählt hatte, herrschte eine gewisse Befangenheit zwischen ihnen, sodass sie sich mittlerweile sagte, es wäre besser gewesen, zu schweigen. Sie hätte ihn nicht mit ihren Problemen belasten dürfen. Doch dann besann sie sich und schimpfte: Nein, Jo, nein. Hör endlich auf, dich für so unbedeutend zu halten! Du bist ein wunderbarer Mensch! Ich muss diesen Gedanken einüben: Ich bin ein wunderbarer Mensch, ich bin es wert, zu existieren! Ich bin kein Sack Reis in China.
    Luca war ihr genauso ein Rätsel wie das Skript ihres Nachbarn über den Drehstrom. Ich bräuchte ein Pfeildiagramm, um ihn zu verstehen.
    Ihr gegenüber saßen zwei Studenten, die die Wohnungsanzeigen durchsahen und entsetzt die hohen Mieten kommentierten.
    Sie sahen nett aus. Joséphine unterdrückte den Impuls, ihnen anzubieten, bei ihr einzuziehen. Sie besaß eine Dienstbotenkammer im sechsten Stock. Aber beim letzten Mal, als sie einem solchen Anfall von Großzügigkeit erlegen war, hatte sie sich danach mit Madame Barthillet und ihrem Sohn Max herumschlagen müssen: Sie war sie lange nicht mehr losgeworden. Seit einer Weile hatte sie nun nichts mehr von den Barthillets gehört. Ab der Station Passy fuhr die Métro-Linie oberirdisch. Diesen Teil der Strecke mochte sie am liebsten: Wenn der Zug aus dem Inneren der Erde hochkam und sich in den Himmel aufschwang. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. Wie aus dem Nichts tauchten die vom Sonnenschein betupften Bahnsteige auf. Jedes Mal überraschte es sie aufs Neue.
    Eine entgegenkommende Bahn hielt neben ihnen. Sie musterte die Menschen im Waggon. Sie beobachtete sie, erfand für sie ein Leben, Liebesgeschichten. Versuchte zu erraten, welche von ihnen ein Paar waren. Ihr Blick strich über eine kräftige Dame in einem groß karierten Mantel, die gerade die Stirn runzelte. Diese Karos sind nicht ideal, wenn man so dick ist, und dann diese Stirn! Ich erkläre sie zu einer verbitterten alten Jungfer. Ihr Verlobter ist irgendwann durchgebrannt, und sie wartet immer noch mit dem Nudelholz hinter dem Rücken auf ihn, um ihm die Meinung zu geigen. Als Nächstes eine andere Frau, sehr dünn, mit pistaziengrünem Eyeliner auf den Lidern. Sie löste bestimmt Kreuzworträtsel, denn sie saugte an einem Bleistift und saß über eine Zeitung gebeugt. Sie trug keinen Ehering und hatte rot lackierte Nägel.

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