Der langsame Walzer der Schildkroeten
Schicksal nicht drohte!‹«
»So gut konnte er schon reden?«
»So steht es zumindest geschrieben … Und zum Schluss sagte er noch: ›Ich kenne meinen Vater besser als Ihr den Euren!‹, was den Richter endgültig zum Schweigen brachte, und er sprach die Mutter frei.«
»Und Sie haben die Geschichte nicht bloß erfunden, um mich zu beruhigen?«
»Ganz bestimmt nicht! Sie stammt aus den Romanen um die Tafelrunde .«
»Was Sie alles wissen! Ich bin nicht sehr lange zur Schule gegangen.«
»Aber Sie haben die Schule des Lebens hinter sich. Und die ist nützlicher als jedes Diplom!«
»Sie sind sehr nett. Manchmal tut es mir leid, dass ich so wenig Allgemeinbildung habe, aber so etwas holt man ja nicht mehr nach!«
»Doch, natürlich! Genauso sicher, wie zwei mal zwei vier sind!«
»Das weiß ich noch …«
Und erleichtert knuffte Josiane Joséphine in die Seite. Joséphine stutzte kurz und knuffte sie zurück.
So wurden die beiden Freundinnen.
Auf der Bettkante sitzend und ihre Jabotblusen zuknöpfend, begannen sie zu reden. Über kleine und große Kinder, über Männer, von denen man glaubt, sie wären groß, und die sich dann doch als klein entpuppen und umgekehrt. Ebenjene nichtssagenden Plaudereien, durch die man den anderen kennenlernt, bei denen man auf den einen Satz lauert, der Vertraulicherem den Weg bereitet oder jeglicher Vertraulichkeit Einhalt gebietet. Josiane rückte das Jabot an Joséphines Bluse zurecht, und diese ließ sie gewähren. Im Schlafzimmer herrschte eine sanfte, anheimelnde Atmosphäre.
»Es ist sehr gemütlich bei Ihnen …«
»Danke«, sagte Josiane. »Wissen Sie, ich habe mich vor Ihrem Besuch gefürchtet. Ich wollte Sie nicht kennenlernen. Ich hatte Sie mir anders vorgestellt …«
»Eher so wie meine Mutter?«, fragte Joséphine lächelnd.
»Ich mag Ihre Mutter nicht besonders.«
Joséphine seufzte. Sie wollte nicht schlecht über Henriette reden, aber sie konnte Josianes Empfindungen nachvollziehen.
»Sie hat mich immer wie ein Dienstmädchen behandelt!«
»Sie lieben Marcel, stimmt’s?«, fragte Joséphine leise.
»Oh, ja! Anfangs hatte ich daran zu knabbern. Er war zu nett, ich war die bösen, harten Jungs gewöhnt. Freundlichkeit war mir verdächtig. Aber dann … Sein Herz ist so rein, dass ich mich jedes Mal, wenn er mich anschaut, wie reingewaschen fühle. Er wäscht mein Elend weg. Die Liebe hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.«
Joséphine dachte an Philippe. Wenn er mich anschaut, fühle ich mich riesengroß, schön und furchtlos. Dann habe ich keine Angst mehr. Zehneinhalb Minuten reines Glück, ununterbrochen ließ sie den Film ihres Truthahnkusses vor ihrem geistigen Auge ablaufen. Ihre Gedanken kehrten zurück zu Marcel.
»Er war sehr unglücklich mit meiner Mutter. Sie behandelte ihn schlecht. Ich litt mit ihm. Seit ich den Kontakt zu ihr abgebrochen habe, fühle ich mich viel besser.«
»Reden Sie schon lange nicht mehr miteinander?«
»Seit ungefähr drei Jahren. Seit Antoine weggegangen ist …«
Joséphine erinnerte sich an den Streit bei Iris, bei dem ihre Mutter sie ihre ganze Verachtung hatte spüren lassen. Mein armes Kind, du bist ja nicht einmal fähig, diesen Jammerlappen von einem Mann zu halten, nicht fähig, deinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht fähig, erfolgreich zu sein, wie willst du denn dein Leben allein meistern, und das mit zwei Kindern? An jenem Tag hatte sie aufbegehrt. Sie hatte ihr alles an den Kopf geworfen, was sie auf dem Herzen hatte. Und seitdem hatten sie einander nicht mehr gesehen.
»Meine Mutter ist tot. Wenn man das überhaupt eine Mutter nennen kann … Nie ein Kuss, nie eine liebe Geste, nur Schläge und Beschimpfungen! Bei ihrer Beerdigung habe ich geweint. Kummer ist genau wie Liebe, das hat man nicht im Griff. Vor dem Loch auf dem Friedhof dachte ich mir, das da unten war meine Mutter, ein Mann hat sie geliebt und mit ihr Kinder gezeugt, sie hat gelacht, gesungen, geweint, gehofft … Und mit einem Mal wurde sie menschlich.«
»Ich weiß, ich denke manchmal genau das Gleiche. Dass wir uns versöhnen sollten, ehe es zu spät ist.«
»Aber seien Sie vorsichtig bei der! Vergessen Sie nicht die Grundregel: Sei Dame, aber nicht dämlich!«
»Ach, ich bin beides, Dame und dämlich!«
»Oh, nein!«, widersprach Josiane. »Nicht dämlich … Ich habe Ihr Buch gelesen, wer so was schreibt, der kann nicht dämlich sein!«
Joséphine lächelte.
»Danke. Warum zweifelt man eigentlich immer an
Weitere Kostenlose Bücher