Der langsame Walzer der Schildkroeten
Stöpsel gezogen und mich komplett leerlaufen lassen«, fuhr Josiane fort. »Ich stehe total neben mir. Ich leide an einer Persönlichkeitsspaltung. Du siehst mich, aber ich bin gar nicht da.«
Marcel Grobz lauschte ungläubig. Noch nie hatte seine Choupette so geredet.
»Du bekommst doch nicht etwa Depressionen?«
»Möglich. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. So etwas gab es bei uns nicht.«
Er war verwirrt. Legte eine Hand auf Josianes Stirn und schüttelte den Kopf. Sie hatte kein Fieber.
»Vielleicht ein bisschen blutarm? Hast du das mal testen lassen?«
Josiane verneinte.
»Na gut, dann müssen wir das als Erstes erledigen …«
Josiane lächelte. Ihr Dickerchen machte sich Sorgen. Seine ängstliche Miene erinnerte sie daran, dass sie sein Ein und Alles war. Sie brauchte ihn nur anzuschauen, und schon wurde sie ruhiger.
»Sag, Marcel, liebst du mich noch genauso wie die Heilige Jungfrau, die du dir ins Bett geholt hast?«
»Zweifelst du daran, Choupette? Zweifelst du immer noch daran?«
»Nein. Aber ich höre es dich so gerne sagen … Wenn man sich gegenseitig so lange das Leder reibt, vergisst man irgendwann, es zu polieren.«
»Soll ich dir was sagen, Choupette, es gibt nicht einen Tag, hörst du, nicht einen Tag, an dem ich nicht gleich nach dem Aufwachen dem Himmel für das gewaltige Glück danke, dich getroffen zu haben.«
Aneinandergelehnt saßen sie auf dem Bett. Und dachten über dieses eigenartige Leiden nach, das Josiane befallen hatte, diese Schwermut, die sie einhüllte und ihr jede Lust, jeden Appetit, jedes Verlangen raubte, all diese Tugenden, die sie seit ihrer Kindheit am Leben hielten.
Das Mittagessen wurde ein voller Erfolg. Junior thronte in seinem Babystühlchen am Kopfende des Tisches wie ein Burgherr. Er hielt sein Fläschchen in der Hand und schlug damit gegen die Stangen seines Sitzes, um seine Wünsche deutlich zu machen. Er mochte es, wenn der Tisch schön gedeckt war, wenn sich Gläser, Messer und Gabeln an ihrem Platz befanden, und wenn einer der Gäste versehentlich nach dem falschen Besteck griff, hämmerte er mit dem Fläschchen gegen seinen Sitz, bis der Schuldige seinen Fehler behob. Man sah seiner gerunzelten Stirn an, dass er dem Gespräch zu folgen versuchte. Er konzentrierte sich so stark, dass er rot anlief.
»Ich glaube, er macht gerade sein Geschäft«, flüsterte Zoé Hortense zu.
Marcel hatte auf jeden Teller ein Geschenk gelegt. Einen Zweihunderteuroschein für jedes Kind. Hortense, Gary und Zoé blieb die Luft weg, als sie den großen gefalteten Schein im Umschlag entdeckten. »Ist der echt?«, hätte Zoé beinahe gefragt. Hortense schluckte und stand auf, um Marcel und Josiane zu küssen. Gary sah verlegen zu seiner Mutter hinüber und fragte sich, ob er protestieren sollte. Shirley bedeutete ihm stumm, nichts zu sagen, um Marcel nicht zu verärgern.
Philippe bekam eine Flasche 47er Château Cheval Blanc, Premier Grand Cru Classé A, Saint-Émilion. Er drehte die Flasche behutsam in den Händen, während Marcel die Lobeshymnen des Händlers herunterbetete, bei dem er seinen Wein erstand: »Herrliche rote Farbe, erlesen, elegant, geschmeidig, körperreich. Der Boden besteht aus einem Sand-Kies-Gemenge, das heißt, der Kies speichert tagsüber die Sonne und wärmt nachts den Weinberg.« Belustigt verneigte sich Philippe und versprach ihm, dass sie die Flasche zur Feier von Juniors zehntem Geburtstag gemeinsam trinken würden.
Junior tat seine Zustimmung durch ein geräuschvolles Rülpsen kund.
Auf Joséphines und Shirleys Teller hatte Marcel ein mit dreißig Brillanten verziertes Weißgoldarmband gelegt und auf den von Josiane ein Paar Ohrclips mit einer großen, diamantbesetzten grauen Tahitiperle. Shirley erklärte, das könne sie nicht annehmen. Auf keinen Fall. Marcel warnte sie, dass er eine Ablehnung seines Geschenks als Beleidigung auffassen werde. Sie protestierte dennoch, er bekräftigte seine Drohung, sie sträubte sich, er gab nicht nach, sie weigerte sich rundheraus, er bestand darauf.
»Ich spiele so gern den Weihnachtsmann, mein Korb quillt über von Geschenken, da muss ich ihn doch ab und zu mal ausleeren!«
Nachdenklich streichelte Josiane ihre Ohrringe.
»Das ist zu viel, mein Bärchen! Ich werde damit aussehen wie ein großer Klunker!«
»Marcel, du bist verrückt«, murmelte Joséphine.
»Verrückt vor Glück, Jo. Du weißt gar nicht, was ihr mir für ein Geschenk damit macht, dass ihr zu uns zum Essen kommt. Ich hätte
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