Der langsame Walzer der Schildkroeten
…«
»Deng!«
»Ach, das ist jetzt nur irgendein Laut!«, sagte Shirley beruhigt.
»Nein«, korrigierte Marcel sie, »das bedeutet ›Sonne‹ auf Chinesisch!«
»Hilfe!«, rief Hortense. »Der Zwerg ist auch noch mehrsprachig!«
Junior streichelte sie mit Blicken. Er war ihr dankbar dafür, dass sie seine Fähigkeiten erkannt hatte.
»Das ist kein Zwerg, das ist ein Riese! Hast du gesehen, wie groß seine Hände sind? Und seine Füße!«
Gary pfiff beeindruckt.
»Schuschu …«, krähte Junior und spritzte Wasser aus seinem Fläschchen in Garys Richtung.
»Was soll das heißen?«, fragte dieser.
»Onkel. Auf Chinesisch. Er hat dich als Onkel ausgesucht!«
»Darf ich ihn mal auf den Arm nehmen?«, bat Joséphine und stand auf. »Es ist so lange her, seit ich ein Baby auf dem Arm hatte … und ein solches Baby möchte ich mir gerne aus der Nähe anschauen!«
»Solange dich das nicht auf irgendwelche Gedanken bringt!«, brummte Zoé.
»Hättest du nicht gerne noch einen kleinen Bruder?«, fragte Marcel spöttisch.
»Und wer soll der Vater sein, wenn ich mir diese indiskrete Frage erlauben darf?«, versetzte Zoé mit einem zornigen Blick auf ihre Mutter.
»Zoé …«, stammelte Joséphine, durch die heftige Reaktion ihrer Tochter etwas aus der Fassung gebracht.
Sie war zu Josiane hinübergegangen, die Junior aus seinem Stühlchen genommen hatte, und beugte sich über ihn, um ihn auf sein rotes Haar zu küssen. Junior starrte sie an, verzog das Gesicht und rülpste einen mächtigen Schwall Karottenbrei aus, der sich über Jos Bluse und Josianes seidenes Oberteil ergoss.
»Junior!«, schimpfte Josiane und klopfte ihm auf den Rücken. »Es tut mir furchtbar leid …«
»Das ist doch nicht schlimm«, entgegnete Joséphine und versuchte, ihre Bluse zu säubern. »Das zeigt doch nur, dass er gut verdaut hat.«
»Choupette, du hast es auch überall!«, sagte Marcel und griff nach Junior.
»Als hätte er absichtlich auf euch beide gezielt!«, bemerkte Zoé lachend. »Ich kann ihn verstehen. Diese ganzen Leute, die ihn einfach so küssen und anfassen wollen. Kein Wunder, dass er die Nase voll davon hat. Man sollte Babys respektieren und sie um Erlaubnis bitten, ehe man sie abknutscht!«
»Wollen Sie sich vielleicht im Bad ein bisschen frisch machen?«, schlug Josiane Joséphine vor.
»Das wäre gut, es fängt nämlich langsam an zu stinken!«, sagte Hortense und hielt sich die Nase zu. »Ich will niemals Kinder haben, die riechen ja erbärmlich.«
Junior schaute gekränkt zu ihr hinüber, und sein Blick schien zu sagen: Ich dachte, du wärst meine Freundin!
Im Schlafzimmer bot Josiane Joséphine an, ihr eine frische Bluse zu leihen. Joséphine nahm gerne an und lachte.
»Das war kein Bäuerchen, das war der reinste Vulkanausbruch. Sie hätten Ihren Kleinen Stromboli nennen sollen!«
Josiane öffnete ihren Kleiderschrank und nahm zwei weiße Blusen mit Spitzenjabot heraus. Eine davon reichte sie Joséphine.
»Wollen Sie vielleicht kurz duschen?«, fragte Josiane verlegen.
Sie hatte erkannt, dass das weiße Spitzenjabot nicht Joséphines Geschmack entsprach.
»Nein, danke … Ihr Sohn ist wirklich erstaunlich!«
»Manchmal frage ich mich, ob er normal ist … Er ist viel zu weit für sein Alter!«
»Er erinnert mich an eine mittelalterliche Geschichte … Es ging um ein Baby, das seine Mutter bei einem Prozess verteidigt hat. Die Mutter wurde beschuldigt, ihr Kind in Sünde empfangen zu haben, weil sie sich einem Mann hingegeben hatte, der nicht ihr Ehemann war. Sie sollte bei lebendigem Leib verbrannt werden, als sie mit dem Baby auf dem Arm vor den Richter trat.«
»Wie alt war das Kind?«
»Genauso alt wie Junior … Die Mutter hielt das Kind hoch und sprach zu ihm: ›Mein hübscher Junge, Euretwegen soll ich in den Tod gehen, obwohl ich ihn nicht verdient habe, doch wer wollte die Wahrheit glauben?‹«
»Und?«
»›Du wirst nicht durch meine Schuld sterben‹, rief das Kind. ›Ich weiß, wer mein Vater ist, und ich weiß, dass du nicht gesündigt hast.‹ Diese Worte versetzten die Klatschweiber, die dem Prozess beiwohnten, in höchstes Erstaunen, und der Richter, der fürchtete, er habe sich verhört, forderte den Jungen auf, sich klarer auszudrücken. ›Sie wird nicht so bald verbrannt werden!‹, rief dieser mit donnernder Stimme. ›Denn wollte man alle verbrennen, die sich anderen als ihrer Gemahlin oder ihrem Gemahl hingegeben haben, wäre kaum jemand hier anwesend, dem dieses
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