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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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die Menschen, er glaubte an sich selbst. Tonio Cortès, der glanzvolle Held. Ein Gewehr an der Hüfte, einen Stiefel auf der erlegten Raubkatze, ein Blitzlicht, das ihn unsterblich macht. Wie oft habe ich ihm gesagt, er solle sich geduldig etwas aufbauen? Keine Etappen überspringen. Erfolg muss man sich erarbeiten. Er entsteht nicht durch Zauberei. Es waren meine jahrelangen Studien und Forschungen, die meinen Roman lebendig werden ließen und ihn mit tausend funkelnden Details füllten, die den Geist der Leser fesselten. Und auch die Seele hat ihren Anteil daran. Die Seele der bescheidenen, gelehrten, geduldigen Forscherin. Die heutige Gesellschaft glaubt nicht mehr an die Seele. Sie glaubt nicht mehr an Gott. Sie glaubt nicht mehr an den Menschen. Sie macht alles klein, erzeugt Verzweiflung und Bitterkeit bei den Schwachen und den Wunsch, einfach alles hinter sich zu lassen, bei den anderen. Ohnmächtig und voller Sorge ziehen sich die Weisen zurück und überlassen das Feld den Gierigen.
    Schon, aber … Warum sollte er Madame Berthier etwas antun? Weil sie den gleichen Hut trug und er sie in der Dunkelheit mit mir verwechselt hat? Das wäre nur möglich, wenn er schon seit einer Weile in Frankreich wäre. Wenn er mich ausspionierte, mir folgte, meine Gewohnheiten kennte.
    Sie lauschte dem Geräusch der Blasen im Kocher, dem langsam ansteigenden Grollen, bis es schließlich klickte und sie das kochende Wasser auf die schwarzen Teeblätter goss. Dreieinhalb Minuten ziehen lassen, darauf bestand Shirley. Wenn du ihn länger als dreieinhalb Minuten ziehen lässt, wird er bitter, weniger, dann schmeckt er fad. Dieses Detail ist wichtig, alle Details sind wichtig, vergiss das nicht, Jo.
    Aber ein Detail hakt, ein winzig kleines Detail passt nicht. Ein Detail, das ich gesehen habe, ohne es zu bemerken. Sie ging alles noch einmal durch. Antoine. Mein Mann. Gestorben mit dreiundvierzig Jahren, mittelbraunes Haar, mittelgroß, Durchschnittsfranzose, Schuhgröße neununddreißig, heimgesucht von übermäßigem Schweißfluss, sobald er sich in Gesellschaft befand, Fan von Julien Lepers und »Questions pour un champion«, blonden Maniküren, afrikanischen Zeltlagern und Raubkatzen als Bettvorlegern. Mein Mann, der Gewehre verkaufte unter der Bedingung, keine Patronen einzulegen. Bei Gunman behielt man ihn wegen seines sanften Wesens, seiner gepflegten Umgangsformen, seiner Konversation. Ich bin doch nicht ganz bei Trost. Seit gestern Abend laufen meine Gedanken kreuz und quer.
    Die Hände um die heiße Teekanne geschlossen, grübelte sie noch eine Weile vor sich hin, dachte an Antoine, dann an den Mann im roten Rollkragenpullover mit dem geschlossenen Auge, der Narbe …
    Antoine ist kein Mörder. Antoine ist schwach, sicher, aber er will mir nichts Böses. Ich bin hier nicht in einem Krimi, das ist mein Leben. Ich muss mich beruhigen. Vielleicht ist er ja in Paris, möglicherweise verfolgt er mich auch, er möchte mich ansprechen, aber er traut sich nicht. Er möchte, dass ich auf ihn zugehe, dass ich ihm anbiete, ihn aufzunehmen, ihm zu essen zu geben, ihm zu helfen. So, wie ich es immer getan habe.
    Auf einem Métro-Bahnsteig …
    Zwei einander kreuzende Züge.
    Warum gerade auf dieser Linie, der Nummer sechs, die sie immer nahm? Sie liebte diese Linie, die über den Dächern von Paris dahinschwebte. Die von Dachgauben abprallte, Bruchstücke aus dem Leben der Menschen raubte. Hier ein Kuss, dort ein weißbärtiges Kinn. Eine Frau, die ihr Haar bürstet, ein Kind, das sein Brot in den Milchkaffee tunkt. Eine Linie, die sich in Bocksprüngen fortbewegt, einmal über die Gebäude hinweg, einmal darunter hindurch, ich seh dich, ich seh dich nicht, die große Schlange, das Pariser Ungeheuer von Loch Ness. Sie liebte es, in die Stationen Trocadéro und Passy hinunterzusteigen oder bei schönem Wetter über die Brücke zur Station Bir-Hakeim zu schlendern. An der Inselspitze vorbei, wo sich die Verliebten küssen und sich ihre Küsse im gelblich braunen Wasser der Seine spiegeln.
    Sie rannte hinaus in den Flur, griff nach der Postkarte und las die Adresse. Es war tatsächlich ihre Adresse. Ihre neue Adresse. Von seiner Hand geschrieben. Nicht von einer freundlichen Postangestellten durchgestrichen.
    Er wusste, wo sie wohnten.
    Der Mann im roten Rollkragenpullover hatte nicht zufällig in der Linie sechs gesessen. Er hatte sie ausgewählt, weil er sicher war, ihr eines Tages dort zu begegnen.
    Er hatte alle Zeit der Welt.
    Sie

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