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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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einen Spalt. Joséphine machte einen Satz nach vorn.
    Alexandre steckte den Kopf herein. »Tschüss, Jo!«, rief er, ohne sie anzusehen.
    »Tschüss, mein Schatz.«
    Sie hörte die Wohnungstür zuschlagen. Zoés Stimme: »Warum gehen sie denn schon? Die Simpsons sind doch noch nicht aus.«
    Joséphine biss sich in die Faust, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien.

Am nächsten Morgen war eine Karte von Antoine in der Post. Abgestempelt in Mombasa. Mit dickem schwarzem Filzstift geschrieben.
    Frohe Weihnachten, meine lieben Schätzchen. Ich denke ganz fest an Euch, und liebe Euch über alles. Es geht mir wieder besser, aber es wird noch eine Weile dauern, ehe ich wieder reisen und zu Euch zurückkommen kann. Ich wünsche Euch ein neues Jahr voller Überraschungen, Liebe und Erfolg. Gebt Eurer Mutter einen Kuss von mir. Bis sehr bald.
    Euer Euch liebender Papa.
    Joséphine prüfte die Schrift: Es war tatsächlich die von Antoine. Er setzte den Mittelstrich des E immer so tief an, als wäre es ihm zu anstrengend, ihn bis in die Mitte des Buchstabens zu heben, und seine kleinen S krümmten sich zusammen wie die bandagierten Stummelfüße chinesischer Frauen.
    Dann warf sie einen Blick auf den Poststempel: 26. Dezember. Diesmal konnte niemand behaupten, es sei ein alter Brief, den er noch vor seinem Tod geschrieben habe. Sie las die Karte mehrmals hintereinander. Allein mit Antoines Schrift. Shirley und Gary waren am Vortag spät zurückgekommen, und auch die Mädchen schliefen noch. Sie legte die Karte deutlich sichtbar auf den Tisch im Flur und beschloss, sich eine Tasse Tee zu machen. Und während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, während sie, neben dem elektrischen Kocher auf die Ellbogen gestützt, auf das erste Zittern an der Wasseroberfläche lauerte, kam ihr plötzlich eine Frage in den Sinn: Warum schrieb Antoine weder eine Adresse noch eine Telefonnummer dazu, unter der man ihn erreichen konnte?
    Das war seine zweite Karte, und immer noch nicht der geringste Hinweis auf seine Bleibe. Ganz gleich, was: eine E-Mail-Adresse, ein Postfach, eine Telefonnummer, ein Hotel. Hatte er Angst, man könnte ihn finden und zur Rechenschaft ziehen? War er derart entstellt, dass er fürchtete, sie könnten sich von ihm abgestoßen fühlen? Lebte er in der Pariser Métro? Wenn er sich tatsächlich in Paris aufhielt, schickte er dann seine Briefe an seine Freunde aus dem Crocodile Café in Mombasa, damit sie sie einwarfen und die Mädchen glaubten, er sei immer noch dort? Oder war das alles nur ein Schwindel, und er war doch tot, wirklich tot? Aber … wer hätte denn ein Interesse daran, sie glauben zu machen, er sei noch am Leben? Und aus welchem Grund?
    Um ihr Angst zu machen? Um Geld von ihr zu erpressen? Sie war jetzt reich. Das stand in allen Zeitungsartikeln, deren Verfasser jedes Mal, wenn sie vom Erfolg des Buches sprachen, auch die Millionen erwähnten, die die Autorin damit verdient hatte.
    Hatte er erfahren, dass in Wahrheit sie Die demütige Königin geschrieben hatte? Wenn er noch lebte, las er sicher Zeitung. Oder hatte Zeitung gelesen, als Hortense damals im Fernsehen den Skandal verursacht hatte. Und wenn dem so war, gab es dann einen Zusammenhang zwischen dem Überfall auf sie und Antoines Wiederauftauchen? Denn falls ihr etwas zustoßen sollte, würden die Mädchen alles erben. Die Mädchen und Antoine.
    Ich fantasiere, sagte sie sich, während sie zusah, wie die ersten Blasen zur Wasseroberfläche aufstiegen. Antoine konnte keiner Fliege etwas zuleide tun! Das stimmt, aber der Sanfte, Sensible träumt immer von roher Gewalt und Männlichkeit, um der Realität zu entfliehen, dem Druck, unter dem er steht, der unausweichlichen Erkenntnis seiner eigenen Ohnmacht. Die heutige Gesellschaft treibt die Menschen zu Gewalt, es ist ihre einzige Möglichkeit, sich zu behaupten. Wie sollte ich da nicht annehmen, dass mein Erfolg für ihn ein persönlicher Affront gewesen ist, falls er davon erfahren hat. Ich, Joséphine, die Träumerin mit ihrem Mittelalter, die er immer bevormundet hat ‒ ich bin erfolgreich und werde so zu einer wandelnden Provokation, die er seinem wiederholten Scheitern gegenüberstellt. Dadurch entwickelt er einen Minderwertigkeitskomplex und ein Gefühl der Frustration, die er nur auslöschen kann, indem er mich auslöscht. Für einen Mann in auswegloser Lage ist das eine ganz einfache Rechnung.
    Antoine glaubte an den Erfolg, an den schnellen Erfolg. Er glaubte weder an Gott noch an

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