Der langsame Walzer der Schildkroeten
dabei wehgetan!«, versetzte ihre Mutter achselzuckend. »Dass du immer gleich so übertreiben musst!«
»Ich spreche nicht von einem kleinen Wehwehchen, Maman, ich spreche von dem Tag, als ich deinetwegen fast gestorben wäre! Und all die Jahre, in denen ich mir eingeredet habe, ich sei nichts wert, weil du dir nicht die Mühe gemacht hattest, mich zu retten, all die Jahre, in denen ich mich bemüht habe, die Menschen nicht zu lieben, die mich hätten lieben können, die mich für eine wunderbare Frau hätten halten können, weil ich dachte, ich sei es nicht wert, all diese Jahre, in denen das Leben an mir vorbeigezogen ist, die habe ich dir zu verdanken!«
»Ach, Josephine, in deinem Alter immer noch von irgendwelchen Kindheitserinnerungen zu faseln, ist doch wirklich jämmerlich!«
»Mag sein, aber in der Kindheit bildet man seine Persönlichkeit aus, in der Kindheit entwickelt man eine Vorstellung von sich selbst und dem Leben, das einen erwartet.«
»Meine Güte, welch ein Sinn für Tragik! Du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Aber so warst du ja immer schon. Verstockt, widerspenstig, gehässig …«
»Ich, gehässig?«
»Ja. Du hast nie etwas aus deinen Möglichkeiten gemacht. Mit einem unbedeutenden Mann, einer kleinen Wohnung in einer durchschnittlichen Vorstadt, einem unbedeutenden Job, einem mittelmäßigen Leben … Deine Schwester hat dich daraus befreit, indem sie dir die Chance gab, ein Buch zu schreiben, endlich einmal Erfolg zu haben, und du bist ihr dafür nicht einmal dankbar!«
»Ach, sollte ich Iris etwa dankbar sein?«
»Ja. Das scheint mir schon. Sie hat dein Leben verändert …«
»Ich habe mein Leben verändert. Nicht sie. Mit dem Buch hat sie mir lediglich das zurückgegeben, was sie, was du, was ihr beide mir an jenem Tag genommen hattet. Ich bin nicht gestorben, nein, ich habe euch beide überlebt! Und das, was mich vor langer Zeit fast zerstört hätte, ist heute die Grundlage meiner Stärke. Ich habe lange Jahre gebraucht, um aus dem Wasser herauszukommen, lange Jahre, um wieder zu Atem zu kommen, meine Arme, meine Beine wieder benutzen zu können, endlich wieder nach vorn zu schauen, und das habe ich niemandem zu verdanken. Hörst du? Niemandem außer mir selbst! Ich schulde dir nichts, und ich schulde Iris nichts. Dass ich mir diese schöne Wohnung und das Leben, das ich heute führe, leisten kann, ist ganz allein mein Verdienst! Und das ist auch der Grund, warum wir uns nicht mehr sehen. Wir sind quitt. Ich hasse dich nicht, verstehst du? Hass ist ein Gefühl. Aber ich empfinde nicht mehr das Geringste für dich.«
»Na schön! Meinetwegen! Wie du willst! Jetzt ist wenigstens alles geklärt. Du bist all deine Verleumdungen und Abscheulichkeiten losgeworden, hast mich für all deine vergangenen Niederlagen verantwortlich gemacht, mich, die dir das Leben geschenkt hat, die unermüdlich gekämpft hat, damit du eine gute Erziehung bekommst, damit es dir an nichts mangelt … Bist du jetzt zufrieden?«
Joséphine war erschöpft. Sie war sieben Jahre alt, und das salzige Nass ihrer Tränen schleuderte sie zurück ins Meer. Achselzuckend sah ihre Mutter ihr beim Weinen zu und rümpfte die Nase, angewidert von dem, was in ihren Augen nichts anderes war als eine erbärmliche, abstoßende Gefühlsduselei.
Sie hatte lange, lange geweint, ohne dass ihre Mutter auch nur eine Hand nach ihr ausgestreckt hätte. Iris war heimgekommen und hatte gefragt: »Was macht ihr denn für ein Gesicht?« Sie hatten am Küchentisch zu Abend gegessen und über den allgemeinen Schlendrian geredet, die zunehmende Kriminalität, das sich verschlechternde Klima und die Kaschmirsachen von Bompard, die auch nicht mehr das seien, was sie einmal waren.
Als Joséphine abends zu Bett ging, hatte sie immer noch das Gefühl zu ersticken. Sie saß auf ihrer Bettkante und rang nach Luft, Wellen der Angst rollten über sie hinweg. Es muss sich etwas tun in meinem Leben. Ich kann nicht so weitermachen. Ich brauche Licht, ich brauche Hoffnung. Sie war ins Bad gegangen, hatte kaltes Wasser über ihre geschwollenen Lider laufen lassen, hatte ihr verquollenes Gesicht im Spiegel betrachtet. Tief in ihren Augen glomm ein Funken Leben. Das waren nicht die Augen eines Opfers. Und auch nicht die einer Toten. Sie hatte lange geglaubt, tot zu sein. Aber sie war nicht tot. Die Menschen glauben immer, das, was sie durchleiden, werde sie umbringen. Sie vergessen, dass so etwas auch zum Leben gehört.
Sie hatte die Flucht
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