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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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aufgerichtet.
    »Soll das jetzt eine Abrechnung werden?«
    »Ich spreche nicht von einem Streit, sondern von etwas Ernsterem.«
    »Ich weiß nicht, worauf du anspielst.«
    »Ich kann deiner Erinnerung gern auf die Sprünge helfen …«
    Henriette hatte sie verächtlich gemustert.
    »Meinetwegen«, hatte sie gesagt, »wenn es dir Spaß macht, mich in den Schmutz zu ziehen …«
    »Ich ziehe dich nicht in den Schmutz. Ich spreche von einer Tatsache, einer simplen Tatsache, die aber meine …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Meine Zurückhaltung in Bezug auf dich erklärt … Mein Bedürfnis, dich auf Distanz zu halten. Hast du keine Ahnung, worauf ich hinauswill?«
    Henriette erinnerte sich nicht. Sie hatte es vergessen. Der Vorfall war für sie so unbedeutend, dass sie ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.
    »Ich wüsste nicht, dass ich dich je verletzt hätte …«
    »Erinnerst du dich nicht mehr an den Tag, als wir im Atlantik geschwommen sind, Iris, du und ich? Papa war am Strand geblieben …«
    »Er konnte ja auch nicht schwimmen, der Arme!«
    »Wir drei sind hinausgeschwommen, weit, weit hinaus. Der Wind frischte auf, und plötzlich wurde die Strömung zu stark. Wir konnten nicht mehr zurück ans Ufer. Iris und ich schluckten Wasser, während du wie immer unbeirrt weiterschwammst. Du warst eine sehr gute Schwimmerin …«
    »Eine ausgezeichnete Schwimmerin! Meisterin im Synchronschwimmen!«
    »Als wir schließlich merkten, dass wir in Schwierigkeiten waren, und zurückwollten, habe ich mich an dich geklammert, damit du mich auf den Rücken nahmst, damit du mich ans Ufer zogst, aber du hast mich weggestoßen und stattdessen lieber Iris gerettet.«
    »Daran erinnere ich mich nicht.«
    »Doch, denk nach … Es hatte sich eine starke Brandung gebildet, die uns jedes Mal, wenn wir versuchten, sie zu überwinden, weiter zurückschleuderte, die Strömung riss uns mit sich, ich bekam keine Luft mehr, ich schrie um Hilfe, ich habe die Hand nach dir ausgestreckt, und du hast mich zurückgestoßen und Iris gepackt. Du wolltest Iris retten, nicht mich …«
    »Du fantasierst, du armes Ding! Du warst immer schon eifersüchtig auf deine Schwester!«
    »Ich erinnere mich noch ganz genau. Papa war am Strand, er hat alles gesehen, er hat gesehen, wie du Iris hinter dir hergezogen hast, er hat gesehen, wie du mich zurückgelassen hast, er hat gesehen, wie du mit Iris die Brandung überwunden hast, wie du sie auf den Strand gelegt hast, sie abgetrocknet hast, dich abgetrocknet hast, und du bist nicht noch einmal zurückgekommen, um mich zu holen! Ich hätte sterben sollen!«
    »Das stimmt nicht!«
    »Das ist die Wahrheit! Und als ich es schließlich doch noch geschafft hatte, ans Ufer zu schwimmen, als ich aus dem Wasser kam, da hat Papa mich auf den Arm genommen, hat mich in ein Badetuch gewickelt und hat dich als Kriminelle beschimpft! Und von diesem Tag an, das weiß ich ganz genau, habt ihr nie wieder im gleichen Zimmer geschlafen!«
    »Unsinn! Du denkst dir nur wieder irgendwelche aberwitzigen Geschichten aus, um dich interessant zu machen.«
    »Er hat dich, meine Mutter, als Kriminelle beschimpft, weil du mich im Stich gelassen hattest. Du hättest mich sterben lassen …«
    »Ich konnte euch nicht beide retten! Ich war erschöpft!«
    »Ach was! Jetzt erinnerst du dich ja doch!«
    »Du hast es doch auch allein geschafft! Du warst stark. Du warst schon immer stärker als deine Schwester. Das hat sich ja gezeigt, du bist unabhängig, du verdienst deinen Lebensunterhalt, du hast eine sehr schöne Wohnung …«
    »Meine Wohnung ist mir scheißegal! Und die Frau, die ich geworden bin, ist mir auch scheißegal! Ich spreche von dem kleinen Mädchen!«
    »Du musst immer aus allem ein Drama machen, Joséphine. Du schleppst schon dein ganzes Leben lang tonnenweise Komplexe mit dir herum, vor allem in Bezug auf deine Schwester … Dabei weiß ich gar nicht, wieso!«
    »Im Gegensatz zu dir weiß ich das ganz genau, Maman!«, erwiderte Joséphine. Tränen schwammen in ihrer Stimme.
    Sie hatte Henriette »Maman« genannt. Seit Jahren hatte sie nicht mehr »Maman« gesagt, und ihre Tränen verwandelten sich in einen Sturzbach. Sie schluchzte wie ein kleines Mädchen, klammerte sich im Stehen an die Tischkante, die Augen weit geöffnet, als sähe sie ihre Mutter, die grauenvolle Gleichgültigkeit ihrer Mutter, zum ersten Mal.
    »Mein Gott, jeder wäre in seinem Leben schon einmal fast ertrunken oder ist hingefallen und hat sich

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