Der langsame Walzer der Schildkroeten
ergriffen. Hatte ihren englischen Verleger angerufen und sich auf den Weg nach London gemacht.
Sie hörte die Ansage, dass der Zug gleich in den Tunnel einfahren werde. Eine Dreiviertelstunde Fahrt unter dem Ärmelkanal. Eine Dreiviertelstunde im Dunkeln. Einige Fahrgäste erschauerten und machten ängstliche Bemerkungen. Joséphine jedoch dachte, dass sie gerade dabei war, aus dem Tunnel herauszukommen, und lächelte.
Das Hotel hieß Julie’s und lag in der Portland Road 135. Ein kleines Hotel, »nice and cosy« , hatte ihr Verleger Edward Thundleford betont. »Ich hoffe, es ist nicht zu teuer«, hatte Joséphine ein wenig verlegen erwidert. »Aber, Madame Cortès, Sie sind natürlich mein Gast, ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, Ihr Buch hat mir ausnehmend gut gefallen, und ich bin stolz darauf, dass es bei uns erscheint.«
Er hatte recht. Das Julie’s glich einer Schachtel englischer Bonbons. Im Erdgeschoss befand sich ein Restaurant wie ein saurer Drop und darüber ein knappes Dutzend beige- und rosafarbener Zimmer mit flauschigem Blümchenteppich und Vorhängen, die so mollig waren wie Fäustlinge. Im Gästebuch standen so illustre Namen wie Gwyneth Paltrow, Robbie Williams, Naomi Campbell, U2, Colin Firth, Kate Moss, Val Kilmer, Sheryl Crow, Kylie Minogue und andere, die Joséphine nicht kannte. Sie ließ sich auf die rote Tagesdecke sinken und sagte sich, dass das Leben schön war. Dass sie einfach in diesem luxuriösen Zimmer bleiben, Tee, Toast und Marmelade bestellen, sich in die altmodische Badewanne mit den geschwungenen Füßen legen und es sich bequem machen würde. Genießen. Ihre Zehen zählen, sich die Decke über den Kopf ziehen, anhand der Geräusche, die aus den anderen Zimmern drangen, Geschichten erfinden würde, sich Paare vorstellen, Streitigkeiten, leidenschaftliche Umarmungen …
Wohnt Philippe hier in der Nähe? Das ist doch idiotisch: Ich habe seine Telefonnummer, aber nicht seine Adresse. London war ihr immer so unermesslich groß erschienen, dass sie sich darin verloren fühlte. Sie hatte nie versucht, sich die Topografie der Stadt einzuprägen. Ich könnte Shirley fragen, wo er wohnt, und dann durch sein Viertel spazieren. Sie unterdrückte ein Lachen. Wie sähe das denn aus? Erst besuche ich Hortense. Mister Thundleford hatte erwähnt, dass ganz in der Nähe des Hotels ein Bus, die 94, hielt, der direkt zum Piccadilly Circus fuhr.
»Da ist ja die Schule meiner Tochter!«
»Dann sind Sie nicht weit von ihr entfernt, und es ist eine sehr schöne Strecke, Sie fahren ein ganzes Stück am Park entlang …«
Am ersten Abend blieb sie in ihrem Zimmer, blickte beim Essen auf einen üppigen Rosengarten hinaus, dessen schwere Blüten sich gegen die Fenster neigten, und ging barfuß über das dunkle Parkett des Badezimmers, ehe sie sich in das duftende Wasser gleiten ließ. Sie probierte alle Seifen, Shampoos, Spülungen, Körperlotionen, Peelings und Pflegecremes aus, schlug mit rosig weicher Haut die Decken des großen Bettes zurück, schlüpfte hinein und lag eine Weile einfach nur da und betrachtete die holzvertäfelte Decke. Es ist gut, dass ich hergekommen bin, ich fühle mich wie neugeboren. Die alte Jo habe ich in Paris zurückgelassen. Morgen überrasche ich Hortense und hole sie nach ihrem Unterricht ab. Ich stelle mich in die Eingangshalle und warte, bis ich ihre große, schlanke Gestalt sehe. Bei jedem kupferroten Schopf wird mein Herz einen Sprung machen, und wenn sie nicht allein ist, lasse ich sie vorbeigehen, ohne sie anzusprechen, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie hat morgens Unterricht, also werde ich ab Mittag auf meinem Posten sein.
Ihr Wiedersehen lief nicht ganz so ab. Joséphine war tatsächlich pünktlich: Um drei Minuten nach zwölf stand sie in der großen Eingangshalle des Saint Martins College. Grüppchenweise kamen Studenten mit dicken Ordnern unter dem Arm heraus, unterhielten sich, verabschiedeten sich mit einem Schlag auf die Schultern. Doch von Hortense war nichts zu sehen. Als sie ihre Tochter bis ein Uhr immer noch nicht entdeckt hatte, ging Joséphine zum Empfang und fragte eine stämmige schwarze Frau, ob sie Hortense Cortès kenne und zufällig wisse, um wie viel Uhr ihr Unterricht ende.
»Sind Sie mit ihr verwandt?«, fragte die Frau mit einem misstrauischen Blick.
»Ich bin ihre Mutter«, antwortete Joséphine stolz.
»Ach …«, sagte die Frau erstaunt.
Und in ihrem Blick las Joséphine die gleiche Überraschung, die
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