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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Bord blieb. Doch das Wichtigste von allem, rief sie sich in Erinnerung, war, dass Charlotte Bradsburry davon träumte, sich dieser affektierten Gesellschaft anzuschließen, aber dass Mrs. Neumann nicht im Traum auf den Gedanken käme, sie einzuladen!
    Schlagartig besserte sich ihre Laune.
    Jemand hatte sein Handy liegen lassen. Ein goldenes Gehäuse mit einem riesigen eingefassten Diamanten. Sie griff danach und wog es prüfend in der Hand. Wie vulgär! Sie klappte es auf, und in großen Ziffern wurde die Uhrzeit angezeigt. Halb eins in Korčula. Halb zwölf in London. Gary spielte Klavier oder fotografierte die Eichhörnchen im Park. Sie verscheuchte das Bild von Gary in zerwühlten Laken neben Miss »Deren Name nicht genannt wird«. Sechs Uhr dreißig in New York. Achtzehn Uhr dreißig in Peking oder Shanghai … Shanghai! Sie zog ihr kleines Hemingway-Notizbuch aus ihrer Prada-Tasche (ein Geschenk von Mrs. Neumann), suchte die Nummer von Mylène Corbier heraus und wählte. Sie hatte schon ein paarmal versucht, sie anzurufen, aber Mylène ging nie ran. Marcel hatte die Nummer bestimmt falsch notiert. Aber es konnte ja nicht schaden, es ein letztes Mal zu versuchen.
    Ein Freizeichen, zwei Freizeichen, drei Freizeichen, vier Freizeichen … Sie wollte gerade auflegen, als sie Mylènes Stimme mit dem leichten Lons-le-Saunier-Akzent hörte, den sie vergeblich loszuwerden versuchte.
    »Hallo?«
    »Mylène Corbier?«
    »Ja.«
    »Hortense Cortès.«
    »Hortense! Mein Schatz, meine Süße, mein Schnuckelchen … Wie schön, deine Stimme zu hören! Oh, ich vermisse euch ja so, meine kleinen Zuckermäuschen …«
    »Mylène Corbier, die anderen Leuten anonyme Briefe schreibt?«
    Hortense hörte ein ersticktes Quieken, gefolgt von einem langen Schweigen.
    »Mylène Corbier, die zwei Waisenmädchen kitschige anonyme Briefe schreibt und ihnen einreden will, ihr Vater sei noch am Leben, obwohl er in Wahrheit mausetot ist?«
    Das gleiche Quieken, jetzt zweimal.
    »Mylène Corbier, die sich in China so dermaßen langweilt, dass sie sich ein perverses Spiel nach dem anderen ausdenkt? Mylène Corbier, die sich per Brief eine Familie zusammenfantasiert?«
    Das Quieken wurde zu einem erstickten Schluchzen.
    »Du hörst sofort auf, uns diese ekelhaften Briefe zu schreiben, sonst zeige ich dich bei jeder Polizei dieser Welt an und erzähle ihnen von deinen kleinen miesen Tricks, deinen nachgemachten Unterschriften, deinen gefälschten Schecks und deinen frisierten Konten. Hast du mich verstanden, Mylène Corbier aus Lons-le-Saunier?«
    »Aber … ich habe nie …« Mylènes Protest klang jetzt wie ein Blöken.
    »Du belügst und manipulierst die Leute. Und das weißt du auch genau! Also sag einfach nur: ›Ja, ich habe verstanden, ich werde euch keine widerlichen Briefe mehr schreiben‹, und du rettest deine eklige Haut …«
    »Ich habe niemals …«
    »Soll ich noch deutlicher werden? Soll ich Marcel Grobz bitten, dir das Maul zu stopfen?«
    Mylène Corbier zögerte, dann wiederholte sie gehorsam ihre Worte. Hortense schnalzte zufrieden.
    »Und noch ein letzter guter Rat, Mylène Corbier: Versuch gar nicht erst, Marcel Grobz anzurufen und dich bei ihm auszuheulen. Ich habe ihm alles erzählt, und er wird dir höchstpersönlich alle Bullen dieser Welt auf den Hals hetzen!«
    Sie hörte ein letztes, von unterdrücktem Schluchzen durchbrochenes Quieken. Die heimtückische Ziege rang nach Luft und hörte auf zu jammern. Hortense wartete noch einen Moment, um sicher zu sein, dass sie tatsächlich begriffen hatte, und legte auf. Das Diamanthandy ließ sie neben der Sonnencreme und einer Sonnenbrille von Fendi auf der Matte liegen.
    Die Augusthitze drang durch die heruntergelassenen Rollläden der Küchenfenster. Eine brütende Hitze, die sich lediglich nachts für ein paar Stunden abschwächte, ehe sie im Morgengrauen genauso drückend wieder über die Stadt hereinbrach. Es war erst zehn Uhr morgens, aber die Sonne sandte ihre glühenden Strahlen gegen die weißen Metallläden und heizte sie mit ihrem Flammenwerfer auf.
    »Ich verstehe diesen Wetterbericht nicht mehr«, sagte Iris, die matt auf ihrem Stuhl hing, seufzend. »Vor zwei Tagen haben sie noch davon gesprochen, dass man die Heizung wieder einschalten soll, und heute träumt man von Eisbergen …«
    »Es gibt keine richtigen Jahreszeiten mehr«, murmelte Joséphine, zu träge, sich eine andere Erwiderung einfallen zu lassen. Die schwüle Hitze schnitt sie von ihren geliebten

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